Sonntag, 17. Juli 2011

Weihnachten

Gemeinsam mit meiner Freundin und deren Enkelin sitzen wir in der Kirche. Es ist Heiligabend und wir warten auf den Beginn der Kinderweihnachtsmesse. Ich möchte mich auf die kommende Feier konzentrieren, den Kindern gleich ein paar sorglose Minuten in einer erwartungsfrohen Atmosphäre genießen, doch meine Gedanken schweifen ab.
Wo war sie geblieben, die unbeschwerte Kinderzeit? Wo war er geblieben, der Zauber der Vorweihnachtszeit, als meine Mutter zum Beginn des Advents einen Adventskalender im Wohnzimmer aufhängte? Den Kalender hatte sie selbst gestickt, winterliche Motive stimmten auf die Weihnachtszeit ein. Für jeden Tag bis zum heiligen Abend war ein Ring angenäht, an dem für meine Schwestern und mich jeweils eine Süßigkeit befestigt war. So sollte uns Kindern das Warten auf das Weihnachtsfest erleichtert werden. Es war unser erstes Ziel, jeden Morgen nach dem Aufstehen zunächst die kleine Bescherung abzuschneiden und die verbleibenden Tage zu zählen, denn mit Spannung erwarteten wir den letzten Tag. Denjenigen, der unter dem Zeichen des leuchtenden Sterns stand, der einst den heiligen drei Königen den Weg zur Krippe wies, in dem das Christuskind geboren wurde. Wie liebte ich den Geruch der frisch gebackenen Plätzchen, die die Räume unseres Hauses erfüllten, den Duft von Tannennadeln und Harz an dem Adventskranz. Nach dem Ablauf einer jeden Woche zeigte auch das Anzünden einer weiteren Kerze, dass der so herbeigesehnte heilige Abend immer näher rückte. Nur noch wenige Tage vor Weihnachten kümmerte sich meine Mutter auf dem Wochenmarkt um einen Weihnachtsbaum. Wie jedes Jahr stritt sie sich mit dem Verkäufer um den Preis, am Ende gab er dann doch nach und sie handelte ihm einen Rabatt ab. Zuhause nahm mein Vater eine Axt, spitzte damit den Stamm an und steckte den Baum in den Halter, mit drei Schrauben wurde der Baum darin fixiert. Im Wohnzimmer fand er seinen Platz, gemeinsam mit unserer Mutter schmückten wir die Äste mit Kugeln, Strohsternen, Engeln und echten Kerzen. Natürlich durfte eine aus Glas geblasene silberne Spitze als Krönung nicht fehlen. Mit leuchtenden Augen warfen wir zuletzt Lametta auf den Baum und erfreuten uns an seinem bezaubernden Anblick. Ja, es war etwas Besonderes, auf Weihnachten und die Geschenke zu warten.   
Dann endlich, am heiligen Abend mischten sich unter die Tannendüfte noch die des Festessens, das meist mein Vater zubereitete, während unsere Mutter mit uns in die Kirche ging. Wie an keinem anderen Tag im Jahr mussten wir rechtzeitig dort sein, denn kam man zu spät, blieben nur noch Stehplätze an den Seiten oder am Ausgang. Ich erinnere mich, wie ich im Verlauf der Messe ständig nach oben auf die bunten Fenster schaute, um die Dämmerung zu erwarten, ein Weihnachtsfest im Hellen schien mir undenkbar zu sein.
Das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ beendete den Weihnachtsgottesdienst. Auch wenn der Weg nach Hause nur kurz war, so erschien er meinen Schwestern und mir an diesem Tag immer besonders lang. Zuhause angekommen war das Licht abgedunkelt. Unsere Eltern gingen vor ins Wohnzimmer. Wir warteten ungeduldig, wollten aber keinesfalls das Christkind stören, das uns die Geschenke bringen würde. Ob es wohl an uns alle gedacht hatte? Hoffentlich hätte es keine Geschenke vergessen!
Dann endlich das erlösende Klingeln einer kleinen Glocke. Wir öffneten die Tür zum Wohnzimmer. Einzig die brennenden Kerzen auf dem Weihnachtsbaum erleuchteten den Raum. Die über die Wand huschenden Schatten, die die hin- und herwiegenden Flammen erzeugten, gaben dem Ganzen eine geheimnisvolle, fast schon unergründliche Atmosphäre.
Am Fuße des geschmückten Baumes in buntes Papier gehüllt, warteten die so lang ersehnten Geschenke auf uns. Noch heute höre ich das Rascheln des Papiers beim Aufreißen. Natürlich hatte das Christkind niemanden vergessen und wie selbstverständlich hatte es unsere Wünsche erfüllt.
Viel zu früh mussten wir dann nach dem Festessen ins Bett gehen, vor lauter Aufregung brachte es mich meist um den Schlaf, häufig wachte ich in der Nacht auf. Wann endlich wäre diese Nacht zu Ende, damit ich wieder mit meinen Geschenken spielen kann?
Das Krippenspiel hat begonnen. Die hochschwangere Maria sucht mit Josef nach einer Unterkunft, sie spürt ihr Kind, das das Licht der Welt erblicken möchte.
Ein unschuldiges Kind, das das Leid der Welt auf sich nehmen wird, um sie zu erlösen. Was habe ich meinen Kindern angetan?
Meine Freundin hat eine gescheiterte Ehe hinter sich, sie bekam ihren Sohn sehr früh, inzwischen selbst erwachsen ist er bereits Vater dreier Kinder. Ihre Scheidung verlief reibungslos als ihr Sohn bereits erwachsen war. Wir beide haben ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Ex-Mann. Bei mir sieht es leider ganz anders aus. Zwar läuft bereits meine Scheidung, es ist meine zweite, doch muss ich fast völlig hilflos zusehen, wie vor allem unser achtjähriger Sohn von meiner Frau zwischen den Fronten benutzt und zerrieben wird.
Noch vor gut einer Woche konnte ich ihn bewundern, wie er in einer Weihnachtsaufführung der Grundschule gekonnt durch das Programm seiner Klasse führte. Nach der Veranstaltung sah er mich und ging wortlos an mir vorbei. Meine Frau war mit unserer vierjährigen Tochter nicht zu sehen. Ich sprach ihn an und wollte von ihm wissen, was los sei, warum er mich missachtete.
„Ich darf nicht mit dir sprechen, sonst bekomme ich Ärger mit Mama.“ Unter Tränen lief er weiter zum Parkplatz.
Von Freunden erfuhr ich, dass meine Frau unsere Tochter beiseite genommen hatte, damit ich zumindest sie nicht sehen könnte. Es war dies zum aktuellen Zeitpunkt der für mich bis dahin schlimmste Moment unserer Trennung.
Die Elternvereinbarung sah für das diesjährige Weihnachtsfest einen Verbleib unserer Kinder bei meiner Frau vor. Um uns allen doch noch ein schönes Fest bereiten zu können, hatte meine Freundin mit viel Liebe für das letzte Besuchswochenende vor dem heiligen Abend einen Weihnachtsbaum vorbereitet. Gemeinsam mit meinen Kindern feierten wir eine vorgezogene Bescherung. Doch schon am nächsten Tag, an dem ich die Beiden wieder zurückbringen sollte, eskalierte die Situation ins Fiasko. Mein Sohn zeigte eine fast panische Angst, seinen neuen mp3-Spieler mitzunehmen, er befürchtete eine Wegnahme durch meine Frau. Unser Zureden blieb wirkungslos, er lief aus der Wohnung. Erst an einem nahegelegenen See gelang es meiner Freundin, mit ihm zu sprechen und zur Rückkehr zu bewegen. Er hatte versucht, den mp3-Spieler im Wasser zu versenken.
Mit so einer katastrophalen Entwicklung unserer Scheidung hatte ich nie gerechnet, dabei hatte ich mir den Schritt zur Trennung mit Rücksicht auf unsere Kinder alles andere als leicht gemacht, die Entscheidung über mehrere Jahre hingezogen. Ich empfand diese Zeit als schrecklich, wie ein Korsett, das mich zunehmend einschnürte und mir die Luft zum Atmen nahm, gezeichnet von der schwindenden Hoffnung, keine Rettung mehr für unsere zerrüttete Ehe zu erkennen. Eine wirkliche Kommunikation fand zwischen meiner Frau und mir außer über die alltäglich zu erledigenden Dinge kaum statt. Konflikte wurden nicht gelöst sondern mündeten in gegenseitigen Vorwürfen, die meine Frustration ins Unerträgliche steigerte. Ich zog mich immer mehr in mich selbst zurück, vereinsamte in unserer Ehe. Letztlich sah ich mich einer Situation ausgesetzt, in der mir die Wahl blieb, mich selbst dafür aufzugeben, immer mehr Energie in die Aufrechterhaltung einer hübschen Fassade, hinter der sich ein stetig wachsender Trümmerhaufen sammelte, zu stecken oder die Entscheidung in Richtung einer Trennung zu treffen. Ich konnte mich nicht aufgeben, ich sah keinen Sinn darin, unseren Kindern ein trügerisches Bild unserer Ehe weiterhin vorzuleben. Es wäre die Vermittlung eines Vorbildes gewesen, das ich mir nicht hätte verzeihen können. Das Scheitern einer Ehe ist für die eigenen Kinder kaum besser, die Sicherheit, in der sie eigentlich aufwachsen sollten, erweist sich als brüchig, aber sie ist wenigstens ehrlich. Ich glaube und hoffe, wenn sie alt genug sind, das zu verstehen, werden sie eher ein Scheitern verarbeiten können als eine Lüge, denn letztere würden sie dann mehr oder weniger schon ihrem eigenen Leben als normal zu eigen gemacht haben.
Obwohl meine Frau mit dem Gang zu einer Psychologin den ersten Schritt hin zu einer Veränderung eingeleitet hat, hat sie mir meinen Entschluss bis heute nicht verziehen, weil ich mit meiner Entscheidung eine Grundfeste ihrer Überzeugung ins Wanken gebracht habe, ein Ergebnis, das sie sicherlich nicht erwartet hatte. Statt aber zumindest die Entscheidung zu akzeptieren, ließ sich mich und unsere Kinder ihre Verbitterung darüber spüren.
Der Heiland ist geboren, die drei Weisen aus dem Morgenland sind dem Zeichen des Sterns gefolgt und bringen ihm die Geschenke dar. Welch ein bewegender Moment für die anwesenden Kinder!
Nur für einen Moment, einen ganz kleinen Moment, wünsche ich mich in meine Kindheit zurück, mir stehen die Tränen in den Augen.

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