Freitag, 2. Dezember 2011

Alptraum Weihnachten

1. Kapitel
„Schatz, hast Du eigentlich schon ein Weihnachtsgeschenk für unseren Sohn besorgt?“
Siedendheiß lief es mir den Rücken hinunter: Ich hatte mich ja in diesem Jahr bereit erklärt, mich um Jonas´ Weihnachtsgeschenk zu kümmern.
„Nein, mein Engelchen, ich werde das aber sofort erledigen“, versuchte ich meine Frau Silvia zu beruhigen.
„Die Geschäfte haben ja morgen noch bis 12:00 Uhr geöffnet und heute ist ja erst der Nachmittag des 23. Dezember, also bleibt dir genügend Zeit, noch etwas Passendes  zu finden!“
Den ironischen Unterton versuchte ich zu überhören, während ich mich auf den Weg machte. Für einen kurzen Moment konnte ich nachvollziehen, warum über manche Menschen Weihnachten jedes Jahr aufs Neue völlig unvorbereitet hereinbricht.
Mühsam quälte ich mich mit meinem Wagen durch die kurz vor dem Verkehrskollaps stehenden Straßen. Nun hatte ich schon zum x-ten Mal den Block auf der erfolglosen Suche nach einem Parkplatz umfahren.
„Was wollen diese Idioten auf der Strasse, können die nicht rechtzeitig ihre Weihnachtsgeschenke einkaufen?“, fuhr es aus mir heraus, als ich dann doch noch eine freie Parklücke erspähte. Wie bepackte Lastesel bahnten sich schnaubende und schimpfende Gestalten ihren Weg durch die hastenden Mengen. Meine Laune befand sich irgendwo auf der tiefsten Sohle einer Bergbaumine, während ich endlich den Spielwarenladen betrat. Obwohl es auch hier nicht besser zuging, öffnete sich für mich über den roten Teppich quer durch den ganzen Laden ein freier Blick auf die Augen eines anmutigen Wesens, das mich sofort in seinen Bann zog. Woher kannte ich sie bloß? Die langen schlanken Beine in der hautengen Jeans, die ebenfalls Körper betonende aufgeknöpfte Bluse regten meine Phantasie an. Ja, ich erinnerte mich, das musste Katrin, die ehemals beste Freundin meiner Frau sein. Vor einigen Jahren war sie weggezogen, irgendwann brach auch der Kontakt ab. Die leicht gewellten kastanienbraunen Haare umkosten ihr liebreizendes Gesicht, als sie sich mir mit lasziv schwingenden Hüften näherte. Offensichtlich konnte sie sich an mich nicht mehr erinnern. Um daher das Überraschungsmoment des Wiedersehens in der Hand zu haben, beschloss ich, sie in die Offensive gehen zu lassen und mich weiterhin als fremd auszugeben.
Die vielen Jahre schienen ihrer Schönheit keinen Abbruch getan zu haben, wie ein guter Wein hatte sie offenbar die Reife zur Vervollkommnung genutzt. Ja, das muss sie sein, dachte ich, die Wiedergeburt des Gesichtes, das bereits der Mona Lisa ihr geheimnisvolles Lächeln verliehen hatte! Mit einem Satz war meine Laune erregt in himmlische Höhen gesprungen, während sich meine Beine magisch angezogen unwiderstehlich in Bewegung setzten und unsere Augen immer tiefer ineinander versanken. Die Welt um uns herum schien wie in ein Nirwana abzutauchen.
„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“, hauchte sie, direkt vor mir stehend entgegen.
„G..ganz gewiss“, stammelte ich.
Begleitet von einem devoten Senken der Augen fragte sie: „Wie kann ich ihnen denn helfen?“
Ich schmolz dahin wie Butter in einer heißen Pfanne. Nur mühsam brachte ich hervor: „Ich suche ein Weihnachtsgeschenk für meinen zehnjährigen Sohn. Ich dachte an eine elektrische Eisenbahn. Was können sie mir denn empfehlen?“
„Ach, wie konnte ich das nur für einen kurzen Moment vergessen? Es ist ja Weihnachten, dann kriechen sie wieder aus ihren Löchern! Diese chauvinistischen Kerle, die der Meinung sind, dass Jungen etwas Technisches geschenkt haben sollten und Mädchen Puppen und Küchenspielzeug, damit  sie auf die Hausarbeit vorbereitet werden!“
Ich hatte das Gefühl, aus vollem Lauf von einem Mona Lisa-Gesicht auf einer Betonwand abgebremst zu werden. War eigentlich schon vorhin diese dicke Warze auf ihrer nun hakenförmigen Nase, fragte ich mich.
„Wie? Ich verstehe nicht, was sie meinen?“
„Sie wissen ganz genau, was ich meine. Wahrscheinlich sitzen sie auch jedes Wochenende bei Bier und Chips vor dem Fernseher und glotzen zu, wenn zweiundzwanzig bunt gekleidete Männer hinter einem Ball herlaufen, während für ihre Frau nur die drei K´s übrig bleiben: Küche, Kirche, Kinder!“
Dabei tippte sie mir mit dem rechten Zeigefinger gegen die Brust, jede Berührung kam mir vor wie ein Stich bis tief ins Herz.
Woher kamen eigentlich so plötzlich diese vielen hässlichen Sommersprossen auf ihrer abstoßend weißen Haut? Und der Finger, der mich durchbohren wollte, wirkte ebenfalls wie ein völlig vertrockneter dürrer Zweig.
„So, guter Mann“, eine unerbittlich klingende Stimme bohrte sich in meine Ohren, „sie werden mir jetzt folgen!“
Nichts war mehr von der Traumfigur zu erkennen, die Kleidung wirkte irgendwie braun und zerlumpt um den breiig wabernden Körper, der sich mit der rechten Hand bei jedem Schritt auf einen knorrigen alten Ast stützte. Willenlos folgten ihr meine Beine. Wo waren nur all die Menschen geblieben?
„Hier sind wir in der richtigen Abteilung. Wonach suchten sie noch für ihren Sohn?“
„Eine elektrische Eisenbahn?“, frage ich kleinlaut.
„Falsche Antwort, sie haben noch immer nichts dazu gelernt. Zweiter Versuch: was wollen sie ihrem Sohn zu Weihnachten schenken?“
„Vielleicht so etwas wie eine … Küche?“
„Sehr gut, sie gehören noch zu den hoffnungsvollen Fällen, sie sind lernfähig. Wenn sie wüssten, mit was für schwierigen Kunden ich es hier manchmal zu tun habe, einfach schrecklich! Also hier habe ich etwas Passendes.“
Aus dem Regal entnahm sie mehrere riesige Kartons, begann sie zu öffnen und den Inhalt aufzubauen. Binnen kürzester Zeit war ich umringt von einem Herd mit Dunstabzugshaube, mehreren komplett mit Töpfen, Pfannen, Geschirr, Backformen, Tellern, Tassen und allem, was sonst noch so in eine Küche gehört gefüllten Schränken.
„Ist doch toll, oder? Von der Größe her genau im Maßstab vom Original an unsere süßen Kleinen angepasst und das Beste: viele Funktionen sind richtig einsetzbar: Auf dem Herd kann man tatsächlich kochen, natürlich wird alles elektronisch überwacht, damit den Kindern nichts passiert. Unter der Spüle ist ein Wasserbehälter, der genug Vorrat bietet, um das Geschirr nach der Benutzung wieder zu reinigen.
„Wirklich klasse! Aber was ist, wenn mal etwas kaputt geht? Wie sieht es dann mit der Reparatur aus?“
Für einen kurzen Moment schaute ich wieder in das Antlitz von Da Vincis Meisterwerk.
„Sie sind wirklich gut! Hätten sie nicht Lust, gemeinsam mit mir hier in der Abteilung zu arbeiten? Ich habe einen guten Draht zum Chef, wir suchen ohnehin noch einen aufgeschlossenen Kundenberater?“, säuselte mir ihre süße Stimme ins Ohr.
„Nein, vielen Dank für das Angebot. Ich bin mit meinem Job zufrieden.“
„Wenn etwas kaputt geht, wird natürlich selbst repariert“, dröhnte es wieder in mich hinein. Sie griff erneut in das Regal, zum Vorschein kam ein Werkzeugkasten.
„Eine weitere Besonderheit an der Küche ist, das sie über eine Steuerungselektronik verfügt, die tatsächlich in unregelmäßigen Abständen Störungen simuliert, die repariert werden müssen. Wie im richtigen Leben halt: Rohrverstopfung, klemmende Schubladen, durchgebrannte Heizspiralen und so weiter. Das lässt sich natürlich nur mit dem passenden Werkzeug als Zubehör reparieren.“
„Sehr praktisch, ich verstehe und sie haben mich überzeugt. Was soll das denn zusammen kosten?“
„Die Jungenküche „Happy Boy“ mit dem Zubehör ist gerade im Sonderangebot, sie haben Glück, nur € 975,00 statt € 1.000,00 und sie werden ihrem Sohn ein unvergessliches Weihnachtsgeschenk  bescheren.
„Das es für unseren Sohn unvergesslich werden wird, glaube ich ihnen sofort, aber neunhundertfünfundsiebzig Euro?“, prustete es aus mir heraus.
Ich hatte es kaum ausgesprochen, als mein Körper von einem brennenden Blitz durchbohrt wurde, der aus ihrem ausgestreckten Zeigefinger hervordonnerte.
„Ja, ja“, wimmerte ich, „das ist wirklich ein einmaliges Angebot. Ich bekomme ohnehin noch Überstunden ausbezahlt, das ist gar kein Problem für mich!“
„Sehen sie, es geht doch. Ich packe Ihnen die Sachen wieder ein und dann gehen wir gemeinsam zur Kasse.
Schwer bepackt wurde ich auf dem Bürgersteig zunächst wie eine Flipperkugel begleitet von Flüchen durch die Menge geschubst. Nur langsam kam ich wieder zur Besinnung. In einem Café gönnte ich mir eine heiße Tasse Tee, als mich plötzlich mein Gewissen plagte.
Wie konnte ich mir nur so einen Unsinn andrehen lassen? Jungenküche „Happy Boy“, wie das schon klingt! Ich sollte weniger Arbeiten, der ganze Stress macht mich schon mürbe. Und diese dämliche feministische Hexe Katrin, die hat doch nur Hass auf Männer, weil sie keinen Richtigen abkriegt. Die soll mich kennenlernen, mir soviel Geld für so einen Schwachsinn aus der Tasche zu ziehen!
Mühsam bahnte ich mir wieder mit dem ganzen Geraffel den Weg zurück zum Spielwarenladen, als sich mir eine völlig zerlumpte Gestalt entgegenstellte.
„Eine milde Gabe für einen Obdachlosen!“
Die Worte prallten mir entgegen. Die fettig herunterhängenden Haare ragten wirr in das zerfurchte Gesicht hinein. Aus dem Mund des Mannes strömte eine üble Alkoholschwade, während sein Lächeln den Blick auf eine braunschwarze Trümmerlandschaft eröffnete, wo ehemals wohl Zähne ihren Platz fanden.
 „Eine Milde Gabe für einen Obdachlosen!“, der Ton seiner Worte wurde harscher.
„Gehen sie mir aus dem Weg! Wenn ich ihnen Geld gebe, versaufen sie es ja doch nur.“
„He Jungs, habt ihr das gehört? Da ist wieder so ein Schlauschnacker!“
Plötzlich tauchten drei weitere Gestalten um mich herum auf, die wie Pilze aus dem Boden geschossen zu sein schienen. Ihr heruntergekommenes Aussehen stand dem des Anführers in nichts nach. Aus allen vier Richtungen drangen nun die vom Alkoholdunst getragenen Worte zu mir.
„Unbarmherziger Kapitalist!“, „Geizkragen!“, „Arroganter Pinkel!“
Der üble Geruch drohte mir den Atem zu rauben.
„Also, was wollen sie von mir?“, brachte ich mühsam hervor, „ich habe kaum Geld bei mir. Ich bezahle nur mit Kredit- oder EC-Karte.“
„Hört, hört, ich bezahle nur mit Kredit- oder EC-Karte“, stimmte der Anführer an, dabei fuchtelte er mit dem ganzen Körper wie eine aufgeblasene Diva.
„Also kann ich jetzt bitte gehen? Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen.“
Wie im Chor schien der Ton der Vier nun verständnisvoller zu werden, „aber kla doch, null Problemo. Wir sin ja auch nur arme Schlucker.“
„Danke für Ihr Verständnis. Ich wünsche Ihnen noch frohe Weihnachten!“ Ich wollte mich wieder in Bewegung setzen, doch die Dunst- und Menschenglocke hielt mich gefangen.
„Sach ma, hälste uns für total bescheuert?“, raunzte mich der Anführer nun an.
Am liebsten wäre ich dem Kerl an die Gurgel gesprungen, doch die Ausdünstungen und der Schmutz all dieser Gestalten hielten mich davon ab.
„Eh, Alter, ich mach dir ´n Angebot. Inner nächsn Seitenstrasse is´n Geldautomat. Da gehn wir jetz alle hin. Auf´m Weg kannse dir schon ma überlegen, was wir dir wert sind. Du gibs uns die Kohle und siehs uns nie mehr wieder. Das is fair oder?“
Meinen Versuch, nach Hilfe zu schreien, hatten die vier bereits kommen sehen und mich mit einem verrotzt triefenden Tuch vor dem Mund rechtzeitig davon abgehalten. Mein Magen erinnerte sich wieder des Frühstücks und war auf dem besten Wege, es mich noch einmal kosten zu lassen.
Beim Geldautomaten angekommen, wollte ich den Auswahlknopf für € 100,00 drücken.
„Na, na, na“, schüttelte der Anführer den Kopf, „dat meinse doch nich wirklich erns? Schentlemän wie wir haben ja wohl mehr verdient und wo wir jetz so gute Freunde sind. Komm ich helf dir.“ In Windeseile packte er meinen Finger und drückte auf die 500-Euro Taste.
In Gedanken sah ich meinen Kontostand bereits in tiefroter Farbe in die tiefsten Tiefen sinken. Wie sollte ich das meiner Frau erklären? Noch ehe ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, waren die Penner mit meinem Geld genauso spurlos verschwunden, wie sie erschienen waren. Zumindest darüber erleichtert, sog ich erst einmal die frische Luft in mich ein.
Was für ein Tag, diese Kerle hatten mir gerade noch gefehlt. Ich hatte nur noch einen Wunsch: so schnell wie möglich das Geschenk wieder umtauschen und dann nach Hause unter die Dusche. Meine Laune befand sich wieder auf dem gleichen Niveau wie zuvor, als ich den Spielwarenladen erneut betrat.
Qualvoll drängte ich mich nun durch die Menschenmenge auf der Suche nach der Verkäuferin. Schweißgebadet fand ich sie schließlich wieder in der Abteilung, in der sie mir das Geschenk angedreht hatte. Sie befand sich gerade im Gespräch mit einem Mann.
„Sie möchten ihrem Sohn eine elektrische Eisenbahn schenken? Aber gern, das ist gar kein Problem…“

„Wie lautet ihr Name?“
„Päch, Florian.“
„Buchstabieren sie ihren Nachnamen!“
„P Ä C H.“
Ich fand mich auf einer Polizeiwache wieder, mir gegenüber saß Kommissarin Hartmann. Noch nie hatte ich ein derart penibel eingerichtetes Büro gesehen. Jedes Einrichtungsstück, angefangen vom Kugelschreiber auf dem Schreibtisch über die Blumen auf dem Fensterbrett, die Aktenordner im Schrank bis hin zu dem Bild an der Wand hatte seinen Platz, der auf den Millimeter genau ausgemessen und ausgewinkelt zu sein schien.
„Wann geboren?“
„Am 15.06.1965.“
Das Bild an der Wand stellte wohl die Replik eines Werkes von Piet Mondrian dar und fügte sich mit seinen geraden schwarzen Linien zwischen den rechteckigen bunten Feldern passgenau in die Gesamteinrichtung ein.
„Wohnhaft?“
„Grenzstrasse 99, Hollemoor.“
Das kantige Gesicht von Kommissarin Hartmann zeichnete sich durch einen schmalen geraden Mund und blonde Haare aus, die mit Sicherheit alle exakt die gleiche Länge von fünf Millimetern hatten. Die stahlblauen Augen musterten mich bei jeder Frage auf´s neue herablassend kalt.
„Herr Päch, was sagen sie nun zu den Anschuldigungen gegen sie?“
„Frau Hartmann“, versuchte ich es in einem ironischen Tonfall, „diese Frau ist doch nicht ganz dicht. Verkauft mir…“
„Nicht in diesem Tonfall, Herr Päch, ich kann auch ganz anders!“
„Wir sind doch unter uns, das ist alles nur ein dummes Missverständnis.“, versuchte ich es nun mehr auf die joviale Art.
„Ein dummes Missverständnis Herr Päch? Mir liegen drei Anzeigen gegen sie vor. Sie haben die Verkäuferin, Frau Katrin Manntreu, auf das Übelste mit den Worten beschimpft, ich zitiere: „notgeile Schlampe, feministische Männerhasserin, falsche vertrocknete Hexe“. Wären da nicht zwei weitere Kunden gewesen, die sie festgehalten haben, müsste ich sogar von dem Versuch eines tätlichen Übergriffs ausgehen. Diese Kunden, die Herren Fred Meyer und Jörg Männel, beschimpften sie für ihre Courage mit den Worten, ich zitiere: „Mistkerle“ und „geile Böcke“. Es gibt jetzt exakt zwei Möglichkeiten für sie: Entweder sie kooperieren oder ich lasse sie vorläufig in Gewahrsam nehmen, weil ich zusätzlich von einer versuchten Körperverletzung ausgehe. Der Staatsanwalt wird dann weiter entscheiden. Da er aber im Moment sehr beschäftigt ist, wird eine Entscheidung frühestens morgen zu erwarten sein. Bis dahin dürfen sie sich dann bei gesiebter Luft über das Weihnachtsfest in einem überschaubaren Raum ganz für sich alleine freuen. Also, entscheiden sie!“
„Ja, ich habe für einen kurzen Moment die Kontrolle über mich verloren, aber die hat mich provoziert und mir diesen teuren Mist verkauft.“
„Und deshalb beleidigen sie eine Verkäuferin? Sind sie nicht in der Lage, klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen, was sie kaufen wollen und was nicht? Ich habe auch den Eindruck, dass sie unter Alkoholeinfluss stehen. Das ganze Büro stinkt schon danach.“
„Doch, ja, eigentlich schon, ich weiß nicht…, aber das mit dem Alkohol waren die vier Penner, die vor dem Spielwarenladen Geld von mir erpresst haben.“
„Jetzt wollen sie mir wohl auch noch erzählen, dass sie von vier Pennern betrunken gemacht worden sind, die dann von ihnen Geld erpresst haben? Warum sollten sie erst vier Leute betrunken machen und dann Geld von ihnen erpressen?“
„Nein nicht so, vor dem Geldautomaten.“
„Wieso vor dem Geldautomaten?“, Kommissarin Hartmann wurde zunehmend ungehalten, „gerade haben sie mir noch erzählt, die vier hätten sie vor dem Spielwarenladen erpresst. Jetzt sprechen sie von einem Geldautomaten.“
„Nein, nein, es war ganz anders…“
„Also, jetzt reicht´s mir. Hier erst einen auf unzurechnungsfähig machen und dann auch noch anderen die Schuld in die Schuhe schieben wollen. Bevor sie meine Intelligenz noch weiter beleidigen, mache ich ihnen einen letzten Vorschlag: sie geben die Tat zu, das wäre positiv für sie. Da sie einen festen Wohnsitz haben, nicht vorbestraft sind und ich keinen Grund für eine Fluchtgefahr sehe, setze ich sie wieder auf freien Fuß.“
„Ja, mir sind diese Worte so ´rausgerutscht.“
„Gut, dann sehen sie zu, dass sie nach Hause kommen, aber Gnade ihnen Gott, wenn sie alkoholisiert Auto fahren. Frohe Weihnachten!“
Mir fehlte die Kraft, mich auf weitere Diskussionen einzulassen und so schleppte mich mit meinen Geschenken zurück zum Parkplatz. Erst in meinem Wagen fühlte ich mich endlich wieder sicher. Die paar Kilometer nach Hause waren nur noch ein Klacks, ich hörte schon das Rauschen des warmen Wassers, um mir unter der Dusche den Schmutz des Tages abzuwaschen.
Wenige Minuten vor meinem Zuhause, meine Laune tendierte bereits wieder in den positiven Bereich, musste ich feststellen, dass mir heute wirklich gar nichts erspart blieb. Vor mir baute sich ein Polizist mit seiner Kelle auf und winkte mich zur Verkehrskontrolle auf den Seitenstreifen.
Ein Kollege näherte sich meinem Fahrzeug, während ich bereits das Seitenfenster herunterfuhr.
„Haben sie Alkohol…“, mitten in der Frage drehte er sich zu einem weiteren Kollegen an einem Streifenwagen um, „du, Willi, der Pokal für den Promillekiller geht in diesem Jahr an uns. Hier quellen die Alkoholschwaden schon dick aus dem Wagen.“
Mein Kopf fiel auf das Lenkrad. Was hatte ich eigentlich verbrochen?
Offensichtlich verstand der uniformierte Kollege meine Reaktion falsch, denn ich hörte den Nachsatz: „Willi, ich glaub´ der muss erst mal in die Ausnüchterungszelle. Der Kerl ist so besoffen, dass er schon einschläft.“
„Ich bin nicht besoffen, ich habe überhaupt nichts getrunken“, versuchte ich mich zu wehren.
„Und ich bin der Frosch mit den goldenen Locken“, bekam ich zur Antwort, „aussteigen und hier in das Röhrchen pusten!“
Ich blies in das Messgerät und wie zu erwarten, zeigte es nicht den geringsten Alkoholgehalt an.
„Das gibt´s doch gar nicht“, sagte Willi, „der Kerl stinkt wie eine ganze Fuselfabrik und das Gerät zeigt nichts an! Warten sie, ich hole das andere.“
Doch auch der zweite Test fiel unverändert aus.
„Sagen sie mal, wieso stinken sie eigentlich so nach Alkohol, wenn sie nichts getrunken haben?“
„Ich bin von vier…“, wollte ich mit meiner Geschichte wieder ansetzen, doch besann ich mich im letzten Moment noch anders, „ich bin über vier Kartons mit Weizenkorn gestolpert.“
„Was einem alles so passieren kann“, stellte Willi fest, „dann zeigen sie mir bitte noch ihren Führerschein und die Wagenpapiere.“

„Schatz, wo warst du denn solange?“, fragte mich Silvia besorgt.
„Immer die gleiche Hetze vor Weihnachten, du kennst das ja Engelchen. Der Verkehrskollaps, die vielen genervten Leute, da ist kein richtiges Durchkommen.“
„Schön, dass du für Jonas die Weihnachtsgeschenke besorgt hast, und so viele, da wird er sich bestimmt freuen.“ Plötzlich rümpfte sie die Nase.
„Sag mal, hast du dich mit deinen Saufkumpanen getroffen? Du stinkst wie ein Fass gefüllt mit billigem Fusel.“
Nein, nicht schon wieder, dachte ich, nimmt das denn nie ein Ende?
„Ich habe mit meinen Freunden keinen Zug durch die Gemeinde gemacht. Ich habe wegen der ganzen Geschenke mehrere Kartons mit Weizenkorn übersehen und bin darüber gestolpert.“
„Hauch mich mal an!“
Bereitwillig hauchte ich ihr ins Gesicht. „Gut, ich will dir mal glauben.“
Der Heiligabend am nächsten Tag startete ruhig. Für das Schmücken des Baumes mit Kerzen, Kugeln und Lametta, der Platzierung der Geschenke nahm ich mir besonders viel Zeit. Diesmal sollte alles perfekt werden. Der Duft von frisch gebackenen Plätzchen untermalt von weihnachtlichen Liedern aus dem Radio, all das wirkte nach den Turbulenzen des gestrigen Tages wie Balsam für meine geschundene Seele.
Als Jonas während der Bescherung mit strahlenden Augen seine riesigen Pakete bewunderte, erwachten Erinnerungen an meine frühen Weihnachtsfeiern, ich wünschte mich nochmals zurück in die eigene unbeschwerte Kindheit, mir standen die Tränen in den Augen.
„Oh, geil! Papa, Mama, schaut mal, ein richtiger Werkzeugkasten!“
„Eine tolle Idee, Flo!“. Es ging mir durch und durch, wenn sie diesen Kosenamen benutzte und so gab ich ihr einen liebevollen Kuss. Genauso hingebungsvoll umarmte sie mich. Mit sehnsuchtsvollen Augen schaute sie mich an, immer enger schmiegten sich unsere Körper aneinander.
Sie biss mir ins Ohrläppchen, wie elektrisierend durchdrang mich ihre zitternde Stimme: „Wollen wir uns gleich auf´s Fell vor dem offenen Kamin legen und viele schmutzige Dinge tun…?“
„Mama, wieso hat mir der Weihnachtsmann eigentlich eine Küche geschenkt?“
„Eine Küche?“
„Ja, schau mal, die ganzen Schränke, das Geschirr und so!“
„Florian, was hast Du Dir denn dabei gedacht?“
„Wieso fragst du eigentlich Papa, ich denke die Geschenke bringt der Weihnachtsmann?“
Obwohl bereits zehn Jahre alt, glaubte unser Sohn noch immer fest an die Existenz des Weihnachtsmannes. Bereits zu Nikolaus baute er einen kleinen Tisch auf. Neben seinen Wunschzettel stellte er eine Schale mit Nüssen und einen Becher Saft. Da er am nächsten Morgen einen geleerten Becher mit wahllos verteilten Nussschalen aber nicht mehr seinen Wunschzettel vorfand, bestärkte ihn das bislang in seinem Glauben, obwohl die Erzählungen seiner Schulfreunde schon ganz Anderes verhießen.
„Los, Florian, erklär du es ihm, schließlich hast du ja die Geschenke besorgt!“
„Ja, Jonas, schau mal, das mit dem Weihnachtsmann ist so eine Sache…“
„Haben meine Freunde in der Schule doch recht, dass es ihn nicht gibt?“, seine Augen blickten plötzlich ganz traurig.
Mir schnürte es die Kehle zu, aber es blieb keine andere Wahl.
„Sie haben recht, Jonas.“
„Und wer isst dann die Nüsse und trinkt den Saft?“
„Das haben wir gemacht, weil du so fest an den Weihnachtsmann geglaubt hast.“
„Maamaaa“, weinend lief er in die Arme meiner Frau, „wenn es schon keinen Weihnachtsmann gibt, dann will ich auch keine blöde Küche haben“, schluchzte er.
„Weißt du Jonas“, versuchte ich es noch einmal, „die Hexe in dem Laden, ich meine die Verkäuferin meinte, wir leben nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert und Jungen sollen ruhig auch Hausarbeit lernen…“
„Was ist das denn für ein Blödsinn?“, mischte sich meine Frau wieder ein.
„Das ist eine richtige Küche, extra für Jungen, sie heißt „Happy Boy“.“
“Sag mal, tickst du noch ganz richtig? „Happy Boy“?! Wie sich das anhört! Soll unser Sohn schwul werden? Wahrscheinlich hast du dich von der Tussi um den Finger wickeln lassen, weil sie so dicke Titten hatte? Sieh, was du damit angerichtet hast: Unser Sohn hat den Glauben an den Weihnachtsmann verloren und du schenkst ihm obendrein noch eine Küche, die bestimmt ein Vermögen gekostet hat, eine wahre Meisterleistung, Florian!“
„Mama, was sind dicke Titten?“
„Frag deinen Vater, Jonas, der kennt sich damit am besten aus!“
Am liebsten hätte ich mich in einem Mauseloch verkrochen, just in diesem Moment klingelte es an der Tür.
„Wer ist das denn?“
„Ach ja, ich habe vergessen zu sagen, dass ich eine alte Freundin von mir wieder ausfindig gemacht habe. Weil sie erst vor kurzem hierher gezogen ist, wollte ich nicht, dass sie zu Weihnachten allein ist und habe sie zum Essen eingeladen.“
Als Silvia die Tür öffnete, traute ich meinen Augen nicht.
„Die Hexe!“, schrie ich heraus.
„Der Spinner!“, kam es zurück. Das war zu viel für mich, schreiend rannte ich in mein Büro und schloss die Tür hinter mir ab. Aus der Ferne hörte ich ein unschuldiges Lied: „Oh, du fröhliche…“

2. Kapitel
„Papa, warum schläfst du denn auf der Couch?“, mit neugierigen Augen schaute mich Jonas an.
„Auch weißt du, Jonas, Mama und ich hatten gestern Streit und dann ist es manchmal besser, wenn man sich aus dem Weg geht.“
„Aber ihr vertragt euch doch wieder, oder?“
„Ja, ganz gewiss. Mach dir keine Sorgen. Geh´ doch wieder in dein Zimmer und spiele mit dem Werkzeugkasten. Wir holen dich dann später.“
„OK“.
Ich machte mich auf den Weg ins Schlafzimmer.
Silvia lag noch immer schlafend im Bett. Vorsichtig gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Was willst du von mir? Laß´ mich in Ruhe!“, der Ärger des gestrigen Abends war noch immer nicht verflogen.
„Schatz, es tut mir leid, ich habe ziemlich viel Mist gebaut.“
„Erst machst du meine beste Freundin an, kaufst ihr diese blöde Küche ab und zum Schluss beschimpfst du sie und zwei weitere Kunden auch noch.
„O.K., sie sah wirklich gut aus, aber ich habe sie nicht angemacht. Ich weiß auch nicht, was mit mir los war. Ich glaube, ich hatte einfach zuviel Stress auf der Arbeit.“
„Ach, komm mir bloß nicht so. Ich sollte vielleicht mal ein paar Tage mit Jonas verreisen, damit du dir in Ruhe Gedanken über uns machen kannst. So, und jetzt stehe ich auf. Es ist gleich halb elf. Wir sind bei meinen Eltern zum Essen eingeladen, vergiss´ das nicht! Und schau mich nicht mit diesem Hundeblick an, ich habe keine Lust, ich bin einfach sauer.“
Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett.
„Ich bin ja nur froh, dass du nicht auch noch die Geschenke für meine Eltern besorgt hast, wahrscheinlich würdest du meiner Mama einen Wagenheber mit Pinup-Kalender und meinem Papa einen Eimer mit Wischmob obendrein noch einen Ratgeber „Omas Küchengeheimnisse“ schenken.“ Mit diesen Worten verschwand sie ins Badezimmer. Sie war wirklich noch ziemlich verärgert, ging auf Nummer sicher und schloss sogar die Tür hinter sich ab.

„Frohe Weihnachten“, fast schon im Chor begrüßten uns meine Schwiegereltern freundlich.
Margret und Walter hatten die siebziger Grenze bereits überschritten. Sowohl gesundheitlich als auch geistig waren sie für ihr Alter noch erstaunlich rege.
„Ihr kommt genau zur richtigen Zeit“, sagte Margret, „das Essen ist bereits fertig.“
Der Tisch war liebevoll mit Kerzen und einer weihnachtlichen Decke geschmückt. In der Ecke des Wohnzimmers unterstrichen die auf dem Tannenbaum leuchtenden Kerzen das festliche Ambiente. Die vielen kleinen Lichter spiegelten sich in reichlich Lametta und goldenen Weihnachtskugeln.
„Oma, wusstest du, dass es keinen Weihnachtsmann gibt?“
Irgendwie schwante mir Böses.
„Wie kommst du darauf, Jonas? Du bereitest ihm doch jedes Jahr einen Teller vor, und der ist am nächsten Tag leer.“
„Das haben immer Mama und Papa gegessen, damit ich das glaube und deshalb hat mir Papa gestern auch eine Küche zu Weihnachten gekauft!“, empörte sich Jonas.
„Eine Küche? Das glaube ich nicht, du willst mich bestimmt veräppeln, nicht wahr?“
„Doch Oma, eine Küche, die heißt happiger Beutel oder so, extra für Jungs.“
Margret und Walter konnten sich ein ungläubiges Grinsen nicht verkneifen.
„Und Mama sagt, Papa hat mir die nur gekauft, weil die Verkäuferin dicke Titten hatte. Deswegen musste Papa auch heute Nacht im Wohnzimmer auf der Couch schlafen!“
„Na, du alter Schwerenöter“, platzte es nun aus Walter heraus, während ein verschmitztes Lächeln zwischen seinen Lippen und den Augen hervorblitzte, „Holz vor der Hütte ist besser als eine Erbse auf dem Waschbrett, sag´ ich auch immer!“
„Walter! Reiß dich zusammen!“, ein Schmunzeln konnte sich aber auch Margret nicht verkneifen.
Polternd fiel mir die Gabel aus der Hand. Plötzlich herrschte Totenstille und vier Augenpaare blickten mich an. Ich kam mir jäh völlig nackt vor.
„Entschuldigung. Der Braten ist wirklich köstlich“, versuchte ich zaghaft das Gespräch wieder in Gang zu setzen.
„Die Geschichte musst du mir nach dem Essen erzählen. Ich habe schon ein paar gute Flaschen Wein kalt gestellt!“
Gleich nach dem Essen packte mich Walter unter dem Arm und schleifte mich fast in den Wintergarten. Es erstaunte mich immer wieder, welche Kraft der Mann noch entwickeln konnte, wenn ihn etwas brennend interessierte.
„Ich habe in letzter Zeit viel zu tun, das macht gewaltig Stress, die Umsatzzahlen…“, versuchte ich einen Anlauf, um das Gespräch gleich in eine andere Richtung zu lenken.
„Prost erst einmal!“. Walter hielt mir das gefüllte Weinglas entgegen.
Das Gespräch plätscherte zunächst dahin, während mich Walter zum Leeren der dritten Flasche Wein animierte, offensichtlich wartete er nur auf den günstigsten Moment, um die Geschichte aus mir herauszukitzeln.
„Was war nun mit den dicken Titten?“
Völlig entspannt und mit etwas schwerer gewordener Zunge erschien mir die gestrige Episode nur noch eine erzählenswerte Zote zu sein.
„Man, hatte die eine geile Figur! An den wichtigsten Stellen gut aufgepolstert, solche Dinger!“, dabei hielt ich mir die beiden Hände mit ordentlich Abstand vor der Brust.
„Klasse, und was passierte dann?“
„Die Augen, das Gesicht, wie Mona Lisa, ich bin darin versunken.“
„Du musst mir unbedingt verraten, wo die Frau arbeitet! Die schau ich mir auch mal an!“
„Wir gingen aufeinander zu. Ich versank in ihrem Blick, meine Phantasie ging mit mir durch…“
„Florian, das reicht jetzt“, dröhnte die Stimme von Silvia keinen Widerspruch duldend an mein Ohr, „Papa und du! Ihr solltet euch beide etwas schämen. Wir fahren nach Hause!“
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Silvia bereits seit ein paar Minuten aufmerksam lauschend in der Tür zum Wintergarten gestanden hatte.
„Schatz, das war doch nur ein … Scherz!“
„Von deinen Scherzen habe ich langsam genug! Jetzt bist du auch noch so betrunken, dass du nicht einmal mehr Auto fahren kannst, echt klasse.“
„Ich glaube, es ist besser, wenn ihr Jonas heute mal bei uns lasst“, versuchte Margret zu beschwichtigen, „die Weihnachtsvorbereitungen sind immer anstrengend, da gibt es dann schon mal öfters Reibereien.“
Mit den Abschiedsworten „Frohe Weihnachten!“ erhob ich mich mühsam aus meinem Stuhl und wankte zum Wagen.
 
3. Kapitel


Die Couch ist gar nicht so unbequem, dachte ich mir, nachdem ich bereits dort die zweite Nacht verbracht hatte und nun mit leicht brummendem Kopf aufwachte. Wie konnte ich nur diese bösen Geister wieder loswerden?
Ich schluckte zunächst eine Kopfschmerztablette. Mit viel Liebe deckte ich anschließend den Frühstückstisch: Aus Gummibärchen formte ich auf Silvias Teller ein Herz. Von der Tankstelle brachte ich neben frischen Brötchen einen sündhaft teuren Blumenstrauß mit, der seinen Platz neben ihrem Gedeck fand. Auf dem freien Teil des Tisches verteilte ich zahlreiche brennende Teelichter. Ich legte eine CD von Peter Cornelius ein, kurz darauf erklang das Lied „Der Kaffee ist fertig“. So vorbereitet, ging ich ins Schlafzimmer.
„Glaub´ bloß nicht, dass Du mich mit diesem Gesäusel um den Finger wickeln kannst!“, waren Silvias Begrüssungsworte.
„Was habe ich denn gestern getan? Gut, ich habe mit deinem Papa ein bisschen getrunken, aber das war ja nicht das erste Mal.“
„Und wie du von Katja geredet hast? In Gedanken stand sie doch schon wieder nackt vor dir, oder?“
„Du kennst doch deinen Vater, er mag zotige Geschichten. Und da habe ich ihm halt gegeben, was er wollte. Im Übrigen, wenn du in höchsten Tönen von George Clooney schwärmst, dann mache ich dir ja auch keine Szene.“
„Das ist was anderes“
„Ja, klar, bei Frauen ist das immer was anderes. Männer sind sofort die schwanzgesteuerten Frauenvernascher und Frauen schwärmen nur. Wenn das wirklich so wäre, gäbe es uns Menschen überhaupt nicht mehr, dann wären wir schon ausgestorben. Außerdem erinnere ich dich nur an vorgestern Abend, da konntest du es gar nicht erwarten, mit mir schmutzige Dinge auf dem Teppich zu machen.“
„Das war ja, bevor ich von deinen geilen Eskapaden erfuhr.“
„Laß´ uns das doch alles vergessen, komm in die Küche, ich habe uns ein schönes Frühstück bereitet.“ Zärtlich streichelte ich ihr über die Wange.
„Na, dann will ich mal schauen.“
Gemeinsam gingen wir in die Küche.
„Oh, Florian, das ist aber ganz lieb von dir. Du bist doch der Beste!“
Während des Frühstücks eröffnete mir Silvia, dass sie sich schon am nächsten Tag mit ihrer Schwägerin Agathe verabredet hatte, um in das neu eröffnete Schuhgeschäft zu gehen. Leider blieb uns nach dem leckeren Essen keine Zeit für Zweisamkeit. Silvia bereitete das Mittagessen für Eckart und Agathe vor, Jonas´ Patenonkel und –tante, die wir eingeladen hatten, während ich mich daran machte, Jonas wieder abzuholen.
„Alles wieder in Ordnung bei Euch?“, waren Margrets erste Worte.
„Ja, alles wieder im grünen Bereich“, beruhigte ich sie.
Walter machte gerade einen Spaziergang, sodass mein Besuch kürzer ausfiel, als ich es angenommen hatte. Im Grunde war ich auch nicht ganz böse darum, wahrscheinlich hätte er ohnehin nur versucht, mir wieder peinliche Fragen zu stellen. Ich fand, dass er für sein Alter noch ein ganz schön geiler Bock war. Ob er wohl jemals Margret betrogen hatte?
„Wie war es denn bei Oma und Opa?“, fragte ich Jonas.
„Super, ich durfte lange Fernsehen und heute Morgen hat Oma extra für mich Pfannkuchen zum Frühstück gemacht!“
„Das ist ja toll. Du, wenn heute Tante Agathe und Onkel Eckart kommen, dann brauchst du denen aber nicht wieder von der Verkäuferin zu erzählen, hörst du?“, wollte ich auf Nummer sicher gehen.
„Warum denn nicht?“
„Du weißt doch wie Tante Agathe ist, die regt sich immer gleich so schnell auf.“
„Ja, stimmt Papa, ich schweige, wie ein Grab.“
Ich wusste nur zu gut, wovon ich redete. Eckart und Agathe waren die Moralapostel in unserer Familie. Sonntags versäumten sie keine Messe, gingen regelmäßig zur Beichte und ließen keine Gelegenheit aus, jedem ihr gottgefälliges Leben zu offenbaren, „um neue Schäfchen aus dem Sündenpfuhl zu befreien“, wie sie sich gerne ausdrückten. Für mich war es kaum nachvollziehbar, wie Silvias Bruder bei dem Vater auf eine derart strenggläubige Bahn geraten konnte. Das ganze Getue, das sie bei ihren Besuchen an den Tag legten, ging mir sowieso regelmäßig auf die Nerven. Beim Essen durfte grundsätzlich nicht geredet werden, „damit man sich allein auf das gute von Gott gegebene Mahl  konzentriert“. Meist musste ich mich gehörig zurückhalten, um über das mir wie aufgesetzt vorkommenden Gehabe nicht ausfallend zu werden.
Auch heute zeigte sich wieder das bekannte Bild: Agathe und Eckart waren dunkel gekleidet, Agathes Bluse und Eckarts Hemd reichten mit ihrem extra hohen Kragen wie die Vatermörder aus Kaisers Zeiten fast den gesamten Hals hinauf. Beide trugen um den Hals an einer langen silbernen Kette ein großes ebensolches Kreuz, das auf der Brust prangte. Agathe hatte ihre Haare zu einem Dutt streng nach hinten gekämmt. Eckarts Pracht war größtenteils bereits sehr früh ausgefallen, sodass er sich die wenigen Reste auf der linken Seite lang wachsen ließ und über den Kopf schnurgerade und wohl auch mit Pomade verstärkt nach rechts gekämmt hatte. Auf mich wirkte er dadurch wie ein eitler Fatzke.
Agathe ergriff als erste nach dem Essen das Wort: „Na, Jonas, was hat dir denn das Christuskind zu Weihnachten gebracht?“
„Nicht das Christuskind, Papa, der hat mir zu Weihnachten eine Küche geschenkt. Ich darf dir aber nicht sagen, dass die ihm eine Verkäuferin mit dicken Titten verkauft hat.“
Ich kam mir vor, als wenn ich von einem riesigen Hammer getroffen binnen Bruchteilen von Sekunden zu Staub zerfallen würde.
Eckart und Agathe rissen empört die Augen auf, beide bekreuzigten sich, hinter vorgehaltener Hand stammelte sie: „Oh, mein Gott! Was für eine verdorbene Familie, unglaublich!“
„Ich kann es einfach nicht glauben, dass das Werk des Satans so nah an unserem so reinen Gewissen liegt!“, ergänzte Eckart sichtlich angewidert.
Ich spürte, wie mein Hals unaufhaltsam zu schwellen begann.
„Jonas, gehst du bitte auf dein Zimmer?“
„Ja, Mama.“ Jonas schien irgendwie erleichtert zu sein, dass er gehen durfte, am liebsten wäre ich ihm gefolgt.
„Und nun zu dir, mein Bruder. Ich habe Verständnis für euren Glauben. Das gibt euch aber nicht das Recht, so über uns zu sprechen.“
„Du weißt, geliebtes Schwesterherz, wir leben nach den Grundsätzen unseres Glaubens, den uns unser Herr geschenkt hat. Er gibt uns die Kraft, den Versuchungen des Lebens zu widerstehen. Trotzdem muss es uns erlaubt sein, die Sünde offen beim Namen zu nennen. Wie sonst soll die Welt besser werden? Die heilende Hand muss auf die kranke Stelle gelegt werden, um sie zu kurieren, zu reinigen. Halleluja!“
Bei diesen Worten brannten bei mir alle Sicherungen durch, mein Hals schien zu explodieren und aus meinen Ohren konnte man wahrscheinlich schon den mit hohem Überdruck pfeifend entweichenden Dampf wahrnehmen.
„Euer verlogenes und selbstgefälliges Gerede könnt ihr euch sparen. Wir leben nicht mehr im Mittelalter“, platzte es aus mir heraus.
Wieder bekreuzigten sich beide.
„Geliebter Schwager, ich glaube, du solltest dein Leben auch mehr nach dem Vorbild des Herrn ausrichten. Das wird dir mehr Ausgeglichenheit geben.“
„Dummschwätzer!“
„Florian hör auf damit!“, doch die Strenge ihrer Worte prallte an meiner Wut ab.
„Ich glaube Eckart, hier gibt es noch viel Arbeit für uns, die Welt ist wirklich schon zu verdorben, wir müssen dem Werk des Teufels Einhalt gebieten!“
„Raus! Sofort! Bevor ich mich vergesse!“
Bei diesen Worten sprang ich drohend auf.
„Heute werden wir nicht weiter kommen Agathe. Laß´ uns besser gehen.“
„Nein, ihr bleibt!“, versuchte es Silvia noch einmal
„Geliebtes Schwesterherz, Gott hat Dir eine große Bürde aufgelastet, die es zu meistern gilt. Wir werden Dir helfen, wir kommen ein andermal wieder.“
„Aber es bleibt doch bei unserer morgigen Verabredung Agathe?“, fragte Silvia fast bittend.
„Gewiss, meine Liebe. Dann werde ich Dir auch zeigen, wie Du neuen Mut gewinnen kannst.“
Mit letzter Kraft konnte ich mich gerade noch zurückhalten, um nicht handgreiflich zu werden. Noch heute sind die deutlichen Einkerbungen meiner Fingernägel in der massiven Buchenplatte des Tisches zu erkennen.

Zwar machte ich es mir in der dritten Nacht auf der Couch wieder bequem, aber der Schlaf wollte sich nicht so recht einstellen. Der Frust der letzten Tage weckte in mir das Bedürfnis, mal so richtig die Sau ´rauszulassen. Ich erinnerte mich meines alleinstehenden Arbeitskollegen Fred Vogeln. Mit seiner schlanken und sportlichen Erscheinung fiel er meist schon von Weitem auf. Seine smarte Art machte ihn zum Schwarm aller Arbeitskolleginnen. Vor allem Betriebsfeste waren für ihn willkommenen Gelegenheiten, um Beute zu machen.
Mein Chef lud zur letzten Weihnachtsfeier auch die Partner der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein. Ehe ich mich´s versah, stand Silvia in der Schusslinie von Fred. Die zunächst ausdrucksstark seine Worte unterstreichenden Armbewegungen kamen ihr immer näher, bis sie fast wie eine Krake meine Frau umfingen. Den feuchten Glanz in Silvias Augen habe ich seither nicht mehr vergessen, als mir das Ganze zu bunt wurde und ich meine Frau gerade noch rechtzeitig zum Tanzen aufforderte.
Fred Vogeln zeichnete aber noch eine weitere Eigenschaft aus: wenn man sicher sein wollte, das eine Information die Runde machte, brauchte man es ihm nur zu erzählen. Um die Umlaufgeschwindigkeit zu erhöhen, genügte der Beisatz: „Behalt es aber für dich, das ist ein Geheimnis!“
Ich mochte Fred nicht wirklich; wohl eher von Neid getrieben missfiel mir seine Art, sich zu nehmen, was er wollte.
Während ich also auf der Couch lag, erinnerte ich mich seiner Erzählung von einem Etablissement ganz in der Nähe. „Dort gibt es die geilsten Frauen! Und es gibt Sonderangebote, sozusagen zwei für einen!“. Wie oft hatte er prahlend davon erzählt und mir jedes Mal einen Knuff zwischen die Rippen gegeben. „Da musst du auch mal hingehen, das wirst du nie vergessen!“
Irgendwie überkam mich die Lust, es auszuprobieren. Und während ich noch darüber nachdachte, wie ich  mich verwöhnen lassen wollte, schlief ich ein.
Als ich am nächsten Morgen aus tiefem Schlaf erwachte, fand ich einen Zettel auf dem Küchentisch. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge las ich folgende Nachricht:

„Ich habe Jonas zu meinen Eltern gebracht.“

In Windeseile frühstückte ich, setzte mich ins Auto und fuhr zum FKK-Club „Freudengrotte“. Es war erst kurz nach zehn Uhr, aber der versteckt hinter dem Gebäude liegende Parkplatz war bereits fas bis zum letzten Platz gerammelt voll. Irgendwie beruhigte mich die Vorstellung, dass es offensichtlich noch andere Männer gab, denen es in den letzten Tagen ähnlich ergangen sein musste, wie mir.
In freudiger Erregung betrat ich das Etablissement. Parfüm geschwängerte Luft umhüllte mich sofort, im Halbdunkel des Raumes konnte ich die mit schwerem rötlichem Stoff überzogenen Wände erkennen. Mit dem gleichen Stoff drapiert standen überall im Raum halbkreisförmige Sitzgelegenheiten verteilt. Die meisten Plätze waren bereits mit Pärchen besetzt. Leicht bekleidete kichernde Damen kümmerten sich um das Wohlergehen der männlichen Besucher. Schwülstige Musik heizte die erotische Stimmung weiter an.
Während ich noch etwas unentschlossen meine Augen in die Runde schweifen ließ, erblickte ich einen mir bekannten Gast. Bereits sehr intensiv mit seiner weiblichen Gespielin beschäftigt, hatte er mich bislang noch nicht bemerkt.
„Was kann ich für dich tun?“, hauchte mir plötzlich eine schmachtende Stimme ins Ohr. Bekleidet in langen halterlosen Strümpfen, einem Bustier, das einem den Busen förmlich ins Gesicht springen ließ, schaute mich eine mandelbraune Schönheit vielversprechend an. Mit ihren langen Fingern streichelte sie mir zärtlich über die Brust. Sie verkörperte die Inkarnation der lüsternen Sünde!
„Einen Augenblick noch bitte, geh´ nicht weg. Ich bin gleich wieder da“, brachte ich mit schwerer Stimmer hervor.
„Aber gerne doch. Für dich tue ich alles!“
Eilenden Schrittes setzte ich mich in Bewegung.
„Na, bist du gerade dabei, die Sünden auszutreiben?“
Als hätte ihn der leibhaftige Teufel gepackt, sackte Eckart wie vom Blitz getroffen in sich zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an.
„Hallo… F.. Florian“, stammelte er mühselig und rang nach Fassung.
„K…ka…kann ich dich mal kurz alleine sprechen?“
„Aber klar, laß´ uns auf die Toilette gehen.“
Sichtlich unwohl in seiner Haut und sich am ganzen Körper schüttelnd gingen wir auf das WC.
„Du, Florian, das mit gestern, das… das war nicht so gemeint.“
„Ach nein? Wie war das denn gemeint?“, wie auf einem inneren Reichsparteitag genoss ich diese Situation.
„Agathe, die ist manchmal etwas streng…“
„Wohl auch reichlich zugeknöpft, was?“
„Aäh, ja, ich meine können wir das nicht alles hier vergessen?“
„Du meinst, einfach gute Freunde bleiben und jeder geht seiner Wege?“
„Ja“, sagte er erleichtert.
„Kein Problem, du verschwindest auf der Stelle, hast mich hier nie gesehen, wirst dich umgehend mit Silvia treffen und dich für dein gestriges Verhalten entschuldigen. Und natürlich ein gutes Wort für mich einlegen. Ist das klar?“
„Ganz gewiss und… du …sagst bestimmt nichts…Agathe?“
„Solange du dich an unsere Abmachung hältst, werde ich schweigen wie ein Grab und nun verschwinde!“
Augenblicklich war er verschwunden, in bester Laune machte ich mich wieder auf den Weg zu meiner wartenden Schönheit. Als sie mich erblickte, ging sie mir entgegen; was für eine Pracht! Nur mühevoll konnte ich meine Zunge davon zurückhalten, mir aus dem Mund zu klappen.
„Hallo Florian, du hier? Willst du auch mal ordentlich einen wegstecken?“
Wie angewurzelt blieb ich stehen, die Stimme kannte ich doch!
Ich drehte meinen Kopf und erblickte… Fred, zwei sich wie Katzen an ihn schmiegende Frauen in den Armen!
Oh, scheiße, der hatte mir gerade noch gefehlt!
„Ich…ich bin nur im Auftrag meiner Schwägerin Agathe hier, um nachzuschauen, ob sich ihr Mann hier ´rumtreibt. Hast du bestimmt gesehen, der Kerl, der hier gerade wie ein geölter Blitz ´rausgerannt ist?“, plapperte es nervös aus mir heraus.
„Aber sicher doch und ich bin der Papst bei der Rekrutierung von Nachwuchs für die Klöster!“
Unter seinem und dem schallenden Gelächter seiner Gespielinnen machte ich mich aus dem Staub. Vor der Tür ließ ich meinen Oberkörper ausatmend vorn über fallen und schloss die Augen. Langsam tief einatmend richtete ich mich wieder auf, schaute nach vorn und blickte in die wütenden Augenpaare von Silvia und Agathe.
Wie konnte ich nur vergessen, dass der Weg zum Schuhparadies an diesem Etablissement vorbeiführte?


Montag, 19. September 2011

Whisky

Ein Mitglied eines Forums schlug mir kürzlich vor, mich doch einmal des Themas „Whisky“ anzunehmen. Er motivierte mich mit der Aussage, dort gäbe es sogar Leute, die das als Rasierwasser nutzten.
Na, prima, dachte ich bei mir, denn dann muss ich gleich vorausschicken, dass ich diesen Leuten keine neuen Erkenntnisse liefern kann, weder in Bezug auf die richtige Handhabe noch die Auswahl einer hauttypischen Whiskysorte. Nach wie vor ziehe ich die Einnahme dieses besonderen Getränkes der Einreibung vor, die ich ehrlicherweise bislang nie probiert habe. Vielleicht gelingt es mir aber mit meinem Beitrag, diesen extravaganten Anwendern das Gespür für die ursprüngliche Bestimmung von Whisky neu zu vermitteln:
Wenn ich das Thema „Whisky“ andenke, so fällt mir als erstes mein langer Weg bis zu der Erkenntnis ein, wie facettenreich dieses hochprozentige Getränk ist. Doch nicht allein der Geschmacksreichtum zeichnet seinen besonderen Genuss aus, die Atmosphäre, die sich beim Trinken hinzugesellt, rundet das Erlebnis wahrlich ab. Ich spreche jetzt nicht von den Käpt´n Böff Böff´s und ähnlichen Marken, die bei namhaften Discountern für wenig Geld zu erstehen sind. Die Allerweltsmarken, deren letzte Geschmacksfeinheiten mit Eis oder Cola gnadenlos neutralisiert werden, sollen ebenso wenig das Thema sein, nein, sondern ich spreche von dem richtigen schottischen Single-Malt-Whisky, in den viel Erfahrung, Geduld und Fertigkeit investiert worden sind, um ihn als echte Ableitung der ursprünglich gälischen Bezeichnung „uisge beatha“, als „Lebenswasser“ zu einem Trinkgenuss werden zu lassen.
Wie gesagt, bedurfte dieses Ziel für mich eines langen Weges, der vor ca. 30 Jahren wohl mit dem Probieren eines Dimple begann. „Whisky kratzt“, war die einzige Erkenntnis, die sich daraufhin fast dogmatisch bei mir festklammerte und jeglichen weiteren Versuch bereits im Keim erstickte. Dieses Dogma hätte wahrscheinlich auch für den Rest meines Lebens bestand gehabt, wenn mich nicht glücklicherweise eines schönen Spätnachmittags im Jahre 2008 mein ehemaliger Nachbar zu einem Fischessen eingeladen hätte. Gemeinsam mit seiner Frau liebten sie Reisen in das Ursprungsland des Whiskys. Aus dieser Liebe erwuchs der Trinkgenuss ebenso wie die Idee, selbst einen Handel aufzubauen, der sich damals noch auf wenige Marken beschränkte, zwischenzeitlich aber auf ein Repertoire von über 200 verschiedenen Sorten sowie allerlei passender Nebenprodukte zurückgreifen kann.
Zunächst wehrte ich das Angebot meines Nachbarn mit der gewohnt stereotypen Bemerkung über das Kratzen ab, ließ mich aber schließlich ob seiner Beharrlichkeit dann doch hinreißen, einen 10 Jahre alten fruchtigen Talisker zu probieren. Binnen Sekunden löste sich das Dogma in Wohlgefallen auf. Endgültig überzeugte mich schließlich die Teilnahme an einem Whiskytasting. Gänzlich zu meinem Erstaunen fand ich „meinen Whisky“, einen 16 Jahre alten Lagavulin, dessen torfig rauchige Note mich bis heute stets aufs Neue fasziniert. Und das, obwohl ich zeitlebens ein überzeugter Nichtraucher war und bin.
Bereits beim Öffnen der Flasche entsteigt der zarte rauchige Duft, die erste Stufe des Genusses, den ich tief einatme. Der dunkle Bernstein seines Körpers im Tumbler, Ergebnis ruhig verweilender Nachreife in alten Sherry-Fässern, schmeichelt den Augen. Bedächtig schwenkend geht die Erhöhung seiner Temperatur mit der Steigerung der Intensität des Rauches einher. Der erste Schluck: Langsam schwappt die leicht ölige Flüssigkeit über die Zunge, noch ein wenig brennend beim ersten Mal bereitet sie die Geschmacksnerven auf die komplexe Geschmacksstruktur aus Karamell, Jod und Meeresbrise vor, die von einem langen rauchigen Abgang gekrönt wird, der durch ein langsames Ausatmen nach dem Schlucken nochmals nachklingt.
Ein wohliges Gefühl breitet sich im Körper aus, Ruhe, Gemütlichkeit. Kann es einen größeren Genuss geben?
Ich bezweifle, dass mir die Einreibung meines Gesichtes und Halses mit Whisky die gleichen Erlebnisse bescheren würde und werde daher auch zukünftig bei der gewohnten Genussmethode bleiben. Es wäre schade, wenn den äußerlichen Anwendern ebenso wie ehemals mir der wahre Genuss so lange oder weiterhin verwehrt bliebe.

Montag, 18. Juli 2011

Wenn Liebe erstickt

Gisela hatte sich sehr viel Mühe mit dem Abendessen gegeben. Der Tisch war festlich gedeckt, drei Kerzen tauchten das Esszimmer in ein dämmriges warmes Licht.
„Es gibt sehr gute Nachrichten“, Giselas Augen strahlten bei diesen Worten. Rolf ahnte, was kommen würde, doch er überließ diesen besonderen Moment seiner Frau.
„Wir werden bald zu dritt sein!“ Vor Freude kullerte ihr eine Träne die Wange hinunter.
„Bist du ganz sicher?“, fragte Rolf bereits ebenfalls strahlend zurück.
„Ja, ich war heute beim Arzt.“
Gisela und Rolf waren ruhige, unauffällige Menschen. Sie gaben gern und hielten sich aus Konflikten heraus. Es war Ihnen wichtiger, in Frieden auseinander zu gehen und die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren, statt viel Energie in Überzeugungsarbeit zu investieren.
Seit gut zwei Jahren waren sie nun schon glücklich verheiratet und hatten diesen wohl schönsten Moment für ein Paar, das sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind, erhofft. Gisela und Rolf lebten in ihrer bereits eingerichteten Wohnung. Finanzielle Sorgen plagten sie nicht, da Rolf als Steiger im Bergbau gut verdiente. Einzig ihr Wunsch, endlich eine richtige Familie mit Kind zu werden, war ihnen bislang versagt geblieben.
Die Schwangerschaft verlief komplikationslos. Die Freude auf den Nachwuchs steigerte sich von Tag zu Tag. Wenige Wochen vor dem geplanten Geburtstermin hatten sie bereits von den Windeln über Fläschchen, Wiege, Strampler bis hin zur Spieluhr die gesamte Erstausstattung zusammen, war die Tasche mit dem Nötigsten für die Geburt bereits gepackt.  
Viel zu früh sanken in diesem Sommer die Temperaturen, das Wetter wirkte mit dem schwer lastenden Nebel eher herbstlich, als Gisela nach dem Aufstehen das erste Ziehen im Rücken verspürte. Nach und nach setzte das Ziehen regelmäßiger ein und nahm an Stärke zu. Da sie Rolf während der Arbeitszeit kaum erreichen konnte, begleitete sie wie vereinbart ihre Nachbarin Margret ins Krankenhaus. Der Gebärmuttermund hatte sich bereits geöffnet, als die Wehen unverhofft aussetzten, fast sah es so aus, als wollte das Kind den Weg in diese Welt verhindern. Erst der Einsatz entsprechender Medikamente führte dann schließlich zur Geburt des Jungen. Obwohl noch geschwächt von den Strapazen wirkte das erste Schreien wie eine Erlösung und ließ bereits die meisten Schmerzen wieder vergessen.
Der Junge machte einen gesunden aber schwächlichen Eindruck, mit seinen gut 2,5 kg bei einer Größe von 45 cm lag er eher am unteren Rand dessen, was normal war.
Am Abend besuchte Rolf voller Freude seine beiden Lieblinge.
„Gerade weil er so klein ist, lass uns ihm einen starken Namen auf den Weg mitgeben“, schlug Rolf vor.
„Was hältst du von „Wilhelm“?“, antwortete Gisela.
So erhielt der Junge wenige Wochen später bei seiner Taufe den Namen „Wilhelm“.
Wilhelm entwickelte sich in den nächsten Monaten nur sehr wenig. Zwar nahm er langsam an Gewicht zu, doch blieb er weiterhin schwächlich.
Selbst der Winter fiel in diesem Jahr unverhofft mit frostigen Temperaturen ein. An einem Nachmittag Anfang Dezember heulte ein eisiger Sturm um das Haus. Wilhelm lag in schlafend in seiner Wiege. Gisela nutzte die Zeit, um Rolf mit einem selbst gebackenen Kuchen zu überraschen. Sie wunderte sich schon darüber, wie lange Wilhelm bereits geschlafen hatte, da das aber häufiger vorkam, blieb ihr sogar die Zeit, den Kuchen fertig zu stellen. Plötzlich beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl, sie eilte in das Schlafzimmer. Die Augen weit aufgerissen, mit stumpfem starrem Blick, fahlem Gesicht und blau angelaufenen Lippen lag Wilhelm in seiner Wiege.
„Wilhelm!“, rief Gisela bereits verängstigt und nahm den Jungen heraus. Ohne Regung hing er schlaff in ihren Armen.
„Neiiin!!!, Wilhelm!!“ schrie sie panisch, rannte mit ihm zum Telefon, um einen Notarzt zu verständigen. Wilhelm zeigte keine Lebenszeichen mehr. Gisela versuchte noch eine Beatmung, doch als der Notarzt wenige Minuten später in der Wohnung stand, konnte er nur noch den Tod des Jungen feststellen. Er hatte einfach aufgehört zu atmen.
Gisela schrie: „Retten sie meinen Sohn, so tun sie doch etwas!“ Weder konnte noch wollte sie das Unbegreifliche annehmen. Erst nach einer Beruhigungsspritze kam sie zur Ruhe. Aus ihrem Dämmerzustand heraus verfolgte sie mit leerem Blick, wie der tote Körper von Wilhelm kurze Zeit später von einem Bestattungsunternehmen abgeholt wurde. Margret hatte die Schreie von Gisela mitbekommen und blieb bei ihr, bis Rolf am Abend von der Arbeit heimkam. Wie fast immer, war es für ihn auch heute wieder ein langer und anstrengender Arbeitstag gewesen, doch als er Gisela sah, verschwand die Müdigkeit abrupt, er ahnte bereits Schlimmes.
„Was ist passiert? Warum weinst Du?“
„Wilhelm, ich wollte ihm helfen, aber ich konnte nicht.“
„Was ist mit Wilhelm?“
Unter heftigem Schluchzen brachte Gisela nur mühsam hervor: „Unser Wilhelm ist tot. Er ist einfach nicht mehr aufgewacht. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.“
Rolf sank auf die Couch. Er nahm Gisela in den Arm. Sie klammerten sich weinend aneinander, um sich gegenseitig Halt zu geben.
Sie gehörten zu einer Generation, für die es nicht üblich war, sich externe Hilfe bei der Trauer zu holen. Psychologen waren nur etwas für Verrückte, aber verrückt waren sie ja nicht. Die Verwandtschaft nahm zwar Anteil, begleitete die Beiden auf dem letzten Weg für Wilhelm, echte Trauerarbeit gab es hingegen nicht. So lastete auf Gisela und Rolf für den Rest ihres Lebens schwer der schlimmste Schmerz verbunden mit dem Schuldgefühl, ihren Wilhelm überlebt zu haben, weil sie zu wenig für ihn getan hatten.
Sehr bald räumten sie die Babyausstattung in den hintersten Winkel des Kellers oder verschenkten Teile davon an einen mildtätigen Verein. Es war ein schwerer Schritt, doch war der einmalige Schmerz leichter zu ertragen als die ständige Auffrischung der Erinnerung. Für Rolf war es einfacher, wieder in den gewohnten Rhythmus einzufinden, das frühe Aufstehen, die anstrengende Arbeit lenkten ihn ab. Für Gisela bedeuteten besonders die Stunden des Tages  Einsamkeit. Kein Kind mehr, das nach Essen schrie, sie mit großen Augen anschaute, dessen kleine Hände noch unkoordiniert zu Greifen versuchten, das sie liebevoll auf den Arm nehmen konnte. Sein Tod hatte ein Stück ihres Herzens herausgerissen, das für immer fehlen würde. Anfangs wachte sie selbst nachts auf, weil sie das Weinen erwartete, mit dem Wilhelm seinen Hunger kundgetan hatte. Sie musste sich dann wieder und wieder klar machen, dass er nicht mehr an ihrer Seite lag noch jemals wieder dort liegen würde. Dann lag sie still weinend im Bett, weil sie Rolf nicht aus dem Schlaf wecken wollte.
Jahre gingen ins Land, das Leben nahm auch für Gisela nur mühsam wieder seinen normalen Gang. Irgendwann erwachte der Wunsch nach einem eigenen Kind zu neuem Leben. Doch auch diesmal wollte er nicht in Erfüllung gehen. Als sie die Hoffnung bereits aufgegeben hatten, Gisela war inzwischen Ende 30, passierte dann doch noch das Unverhoffte, sie wurde abermals schwanger. Zwar standen plötzlich die Ängste erneut vor ihnen, sie klammerten sich aber an die Hoffnung, nun von einem weiteren Schicksalsschlag verschont zu bleiben. Der Verlauf der Schwangerschaft nährte ihre Hoffnung, denn es gab keine Komplikationen und diesmal verlief auch die Geburt des zweiten Jungen ganz normal. Größe und Gewicht entsprachen dem normalen Maß. Am Tage seiner Geburt verglühten viele kleine Gesteinskörner, als sie sich zu nah Mutter Erde näherten.
„Diesmal hat es der liebe Gott wohl gut mit uns gemeint“, begrüßte Gisela ihren Mann, als er mit einem Strauß roter Rosen ins Krankenhaus kam.
„Trotzdem habe ich Angst, es könnte wieder etwas Schlimmes passieren“, entgegnete Rolf.
„Ich spüre es, diesmal wird unser Sohn bei uns bleiben. Die Schwangerschaft, die Geburt, alles ging gut, du hast es selbst erlebt. Ich werde nun alles dafür tun, dass ihm nichts geschieht.“ Bei diesen Worten schwang in Giselas Stimme eine bedeutungsvolle Zuversicht mit.
„Ich wünsche es uns Dreien, endlich eine richtige und glückliche Familie zu werden“, sagte Rolf in einer Mischung aus Angst und Zuversicht.
Der Junge erhielt den Namen Martin. Körperlich entwickelte er sich zunächst seinem Alter entsprechend. Bereits im Kindergarten und später in der Schule zeigte er einen wachen Geist, Kreativität und hohe Konzentrationsfähigkeit, sodass er ohne Schwierigkeiten die Grundschule durchlief. Statt ihn jedoch gemäß seinen Fähigkeiten und der ausgesprochenen Schulempfehlung auf ein Gymnasium zu schicken, wählten seine Eltern mit der Realschule den vermeintlich sichereren Weg.
Familiär wurde es jedoch immer ruhiger um die kleine Schicksalsgemeinschaft. Allzu offensichtlich stellte sich besonders Gisela vor ihren Sohn, selbst wenn eindeutig feststand,  dass er sich falsch verhalten hatte. So war es normal, wenn er seinen Cousinen oder Cousins Leckereien oder Spielsachen wegnahm, die er just in diesem Augenblick zusätzlich essen oder mit denen er selbst spielen wollte. Statt ihn in seine klaren Grenzen zu verweisen, erhielt er Bestärkung, während die anderen Kinder anderweitig entschädigt wurden. Da sich solche Vorfälle häuften, Martins Verhalten ob solcher Unterstützung zusehends zum kleinen Tyrannen entwickelte, blieben immer mehr Verwandte mit ihren Kindern fern. Ähnlich verhielt es sich mit Schulfreunden, die schließlich ganz ausblieben. Mit zunehmendem Alter ging so eine merkwürdige Wandlung mit Martin vor. Mit einer Länge von 1,65 Metern hörte er auf zu wachsen, er spürte wohl auf der einen Seite den Einfluss seiner Eltern, die ihm jeden Wunsch von den Lippen ablasen, der Preis dafür war jedoch eine zunehmend stärkere Abhängigkeit von ihnen, da ihn außerhalb seines Familienkreises nur Einsamkeit umgab.
Rolf baute ihm mit viel Akribie eine Heimorgel, später erhielt er ein Klavier. Da seine musische Begabung jedoch kaum mehr als ein Mittelmaß ausmachte, Martin auch keine besonderen Ambitionen zum Üben zeigte, verliefen diese kostspieligen Versuche, ihn an die Musik heranzuführen, letztlich im Sande. Versuche, ihn zu sportlichen Aktivitäten zu motivieren, erlitten das gleiche Schicksal. Niemals wurde er wirklich gefragt, was ihn eigentlich bewegte oder was ihn interessierte. Gisela bestimmte, was er anzuziehen hatte. Seine Kleidung war stets von guter Qualität, lief jedoch ständig an der Kindermode vorbei, denn sie war vom Stil her an dem ausgerichtet, was auch seine Eltern trugen. Als er ausgewachsen war, stellte sich zudem das Problem, für seine irgendwie zu klein gebliebenen Füße geeignetes Schuhwerk zu finden. Den Kindergrößen entwachsen und für Erwachsenengrößen zu klein, fand Gisela geeignete Fußbekleidungen bei den Frauenschuhen, die Männerschuhen noch am ähnlichsten waren. So wurden ihm jegliche Entscheidungen abgenommen, Martin bekam keine Chance, selbst Einfluss zu nehmen, die Abhängigkeit ging in eine Hörigkeit über. Aus dem einstmals tyrannischen Kind entwickelte sich ein durch seine altmodische Bekleidung auffälliger aber ansonsten kaum zum Sprechen zu bewegender stiller Mensch.
Er war inzwischen volljährig, wohnte nach wie vor bei seinen Eltern, hatte weder Freunde, mit denen er ausging, noch jemals eine Freundin gehabt. Um Abwechslung und persönliche Kontakte in sein Leben zu bringen, kam Gisela die Idee eines Cousinen- und Cousintreffens.
Während seine Eltern „in der Disco“ waren, sollte man sich in lockerer Atmosphäre unterhalten. Da Martin allerdings nur auf direkte Ansprache redete und selbst dann nur das Nötigste sagte, versuchten seine Cousins, ihn durch Alkohol lockerer zu machen. Tatsächlich zog er mit, sein verklemmtes Verhalten löste sich, plötzlich konnte er sogar herzhaft lachen. Leider vertrug er den Alkohol nicht, musste sich nach ein paar Stunden bereits übergeben und verschwand dann plötzlich im Bett. Die Stimmung erreichte bei den anderen jubilierende Höhen, endlich war Martin einmal zumindest ein wenig aus sich heraus gegangen.
Irgendwann kamen Gisela und Rolf nach Hause, die gute Stimmung, die sich breit gemacht hatte, dauerte noch immer an.
„Wo ist Ulli?“ war Giselas erste Frage.
„Uli? Der liegt bereits im Bett, hat wohl den Alkohol nicht vertragen“, bekam sie zur Antwort.
Wie eine Feder, die auf das Äußerste gespannt war und plötzlich losgelassen wird, rannte sie ins Schlafzimmer, um nach ihm zu schauen. Er schlief so fest, dass er sie gar nicht  bemerkte. Derweil hielt sich die lockere Feierlaune noch eine Weile, bis schließlich die Letzten den Weg nach Hause fanden.
Die Vorfreude war groß, als das nächste Treffen von Gisela anberaumt wurde. Diesmal würde man mit Martin sicher einen tollen Abend verbringen können. Doch die Erwartungen wurden schnell enttäuscht. Offensichtlich war Martin ob seines frühen und alkoholreichen Absturzes ordentlich eingenordet worden. Er hielt sich deutlich spürbar zurück, seine Anwesenheit war nur noch rein körperlich.
Nachdem sich bei dem nächsten Treffen das gleiche Trauerspiel wiederholte, sagten bei zukünftigen Terminen alle ab. Wieder schnürte sich der Ring der Einsamkeit enger um Martin.
Rolf war inzwischen in den Ruhestand gegangen. Er sah nun auch seine Chance gekommen, sich intensiver um seinen Sohn zu kümmern. Schon lange hatte der seine Schule erfolgreich beendet. Für Martin allerdings eine Arbeit zu finden, erwies sich für Rolf und Gisela als unerwartet schwer. Zwar brachte er ansehnliche schulische Noten mit und für die Zeit bis zu einer möglichen Anstellung sorgten die Beiden für fachliche Fortbildungen, die seine Chancen erhöhen sollten. Da Martin aber nie gelernt hatte, Eigeninitiative oder Durchsetzungsvermögen zu entwickeln, blieb spätestens nach einem Vorstellungsgespräch der erwünschte Erfolg aus. Weder Rolf noch Gisela versuchten nach den wirklichen Ursachen zu suchen, sie sahen als Grund nur den Arbeitsmarkt selbst. Nach etlichen Misserfolgen fand sich dann doch noch ein Anstellungsverhältnis als kaufmännischer Mitarbeiter, für Gisela und Rolf war glücklicherweise dafür nicht einmal ein Umzug erforderlich, Martin konnte bei ihnen wohnen bleiben und täglich mit seinem Auto selbst zur Arbeit fahren.
Er machte seine Arbeit ordentlich, erwies sich als zuverlässiger Mitarbeiter. Zwar entwickelte er keine neuen Ideen, doch da er sich auch nicht beschwerte, bürdete man ihm, wann immer es erforderlich war, mehr Arbeit auf. Sein Gehaltsniveau stieg nur dann, wenn es für alle anderen Mitarbeiter genauso geschah, denn Martin selbst wagte es nie, Forderungen zu stellen.
Auf Giselas Initiative hin wurde Martin von Verwandten einmal im Jahr an die Mosel zur Weinprobe mitgenommen. Er setzte sich in die Runde, trank gelegentlich von dem angebotenen Wein, schaute mit traurigen Augen auf die Leute, die sich in lustiger Runde um ihn herum amüsierten und verschwand irgendwann im Laufe des Abends auf sein Zimmer. Kurz vor der Abfahrt bestellte er mehr aus Höflichkeit ein paar Flaschen Wein. Der Versuch, mit ihm ein Gespräch zu führen, verlief so schleppend wie eh und je. Die Antworten blieben auf das Notwendigste beschränkt, er stellte keine Gegenfragen, über sich selbst sprach er ohnehin nicht, was ihn bewegte, freute oder beschäftigte. Dieses zähe Ringen um einen Dialog hielt niemand lange aus, weshalb es kaum jemand überhaupt versuchte.
Inzwischen war Martin mehr als 30 Jahre alt, noch immer wohnte er bei seinen Eltern. In dem Haus, in dem sein Cousin Tobias mit seiner Freundin wohnte, wurde ein kleines Apartment frei. Das Wohnhaus lag nur wenige Kilometer von seinem Elternhaus entfernt und hätte ihm den Weg zur Arbeit sogar noch ein wenig verkürzt.  Tobias kam die Idee, Martin bei nächster Gelegenheit den Vorschlag zu machen, dort einzuziehen. Während einer Geburtstagsfeier wenig später bot sich eine Chance. Am Kaffeetisch saß Martin zwischen seinen Eltern. Giselas und Rolfs Stühle standen so eng neben seinem, dass ihm gerade genug Platz blieb, den Kuchen zu essen und den Kaffee zu trinken. Ein Aufstehen wäre ihm nur dann möglich gewesen, wenn einer der Beiden zuvor den Weg frei gemacht hätte. Es war die gleiche Einrahmung, wie sie sich immer bei Feierlichkeiten bot.
„Ulli, bei uns im Haus ist ein kleines Apartment frei geworden“, nahm Tobias Anlauf, „wäre das nicht eine geeignete Wohnung für Dich?“
„Vielleicht“, antwortete Gisela, während Martin wortlos nickte.
„Wir müssten uns allerdings die Wohnung erst einmal anschauen“, fügte Rolf hinzu.
Überrascht über die unerwartete Zustimmung von Martins Eltern antwortete Tobias:
„Das dürfte kein Problem werden, ich kann mich ja um einen Besichtigungstermin kümmern, wenn ihr das wollt?“
„Gut, dann gib uns bitte bescheid“, stimmte Gisela zu.
Am darauffolgenden Wochenende fand dann die Besichtigung statt. Alle Räume wurden genau untersucht, Rolf hatte bereits ein Metermaß mitgebracht, um die Örtlichkeiten zu vermessen und deren eventuelle Einrichtung zu planen. Nachdem sie sich mit dem Vermieter auch über die Miete geeinigt hatten, empfahlen sie Martin zum Mietvertrag.
Rolf entwarf den Einrichtungsplan und als Einkaufsberaterin suchte Gisela für Martin die Möbel, Tapeten sowie Gardinen aus. Finanziell halfen sie ihm unter die Arme, da sein Geld allein für die Bezahlung des Mobiliars nicht reichte.
Beim Tapezieren stand Martin meist teilnahmslos dabei, wenn Gisela die Tapeten für das Ankleben vorbereitete, was Rolf vornahm. Nach dem Abschluss der Arbeiten putzte Gisela die Wohnung blitzblank.
Nachdem die Möbel geliefert worden waren, bestimmten Gisela und Rolf, wann Martin in seiner Wohnung bleiben dürfte: Wegen seiner Arbeit würde er von montags bis freitags nach wie vor bei ihnen bleiben, damit sie ihn versorgen könnte. Für seinen Freigang von Freitagnachmittag bis Sonntagabend putzte Gisela sicherheitshalber nochmals alles und bereitete alle Mahlzeiten vor. Seine Schmutzwäsche verblieb in der Wohnung, weil sie dort am einfachsten von Gisela wieder gewaschen, gebügelt und eingeräumt werden konnte. Bei diesen Gelegenheiten füllte sie den Kühlschrank mit nichtalkoholischen Getränken auf.
Während der Zeit, die er in seinem Domizil verbrachte, blieb er genauso unauffällig wie sonst. Kein einziges Mal klingelte er an der Wohnung von Tobias, die auf der gleichen Etage direkt neben seiner lag.
Kurze Zeit später zogen Tobias und seine Frau nach Norddeutschland, weil er dort Arbeit gefunden hatte. Martins Firma hingegen verlegte die Filiale in den süddeutschen Raum. Er half beim Umzug und arbeitete die Mitarbeiter vor Ort ein. Als ihm jedoch das Angebot gemacht wurde, ebenfalls seinen Wohnsitz dorthin zu verlegen, lehnte er auf Drängen seiner Eltern ab und verlor seinen Arbeitsplatz.
Da in der Firma von Tobias Arbeitskräfte gesucht wurden, schlug er Martin vor, sich dort vorzustellen. Den Chef schreckte jedoch die Initiativlosigkeit ab, sodass von einer Einstellung abgesehen wurde, Martin blieb arbeitslos. Er blieb es nicht nur für Monate, denn die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechterte sich zudem immer weiter, die hohe Arbeitslosigkeit erschwerte zusätzlich seine Chancen. Fortbildungsmaßnahmen verpufften ebenso wirkungslos, die Zeit ohne Berufserfahrung wurde immer länger, was seine Chancen weiter verschlechterte, er fand schließlich überhaupt keine Arbeit mehr, seine Eltern blieben seine einzige Nabelschnur, von der er lebte. Finanziell würde er sich keine Sorgen zu machen haben, Gisela und Rolf lebten schon immer bescheiden genug, sodass ausreichend Geld übrig blieb, das in Reserven angelegt war. Zwar hatte die Natur ihnen eine robuste Gesundheit geschenkt, doch nagte an ihnen das Alter genauso wie an jedem anderen Menschen. Rolf starb mit 85 als Erster. Gisela setzte ihre Energien weiter für ihren Martin ein, bis das Schicksal sie ein Jahr später genauso ereilte. Er empfand keine Trauer über ihren Tod, allein die Angst, die ihm sein Leben lang durch seine Eltern eingeimpft worden war, nahm von ihm Besitz.
Da er es nie anders gelernt hatte, begriff er seine Situation nicht mehr als neu gewonnene Freiheit, sondern als Zustand der Haltlosigkeit. Er setzte sich in einen Sessel seiner elterlichen Wohnung und wie einst sein verstorbener Bruder, den er nie kennengelernt hatte, hörte er auf zu atmen. Selbst im Tod sah er nicht das Sonnenlicht, weil der Sessel mit dem Rücken zum Fenster stand. Bis zum Schluss galt sein letzter Blick einem Foto im Regal, auf dem seine Eltern abgebildet waren, zwischen ihnen Martin.