Montag, 18. Juli 2011

Wenn Liebe erstickt

Gisela hatte sich sehr viel Mühe mit dem Abendessen gegeben. Der Tisch war festlich gedeckt, drei Kerzen tauchten das Esszimmer in ein dämmriges warmes Licht.
„Es gibt sehr gute Nachrichten“, Giselas Augen strahlten bei diesen Worten. Rolf ahnte, was kommen würde, doch er überließ diesen besonderen Moment seiner Frau.
„Wir werden bald zu dritt sein!“ Vor Freude kullerte ihr eine Träne die Wange hinunter.
„Bist du ganz sicher?“, fragte Rolf bereits ebenfalls strahlend zurück.
„Ja, ich war heute beim Arzt.“
Gisela und Rolf waren ruhige, unauffällige Menschen. Sie gaben gern und hielten sich aus Konflikten heraus. Es war Ihnen wichtiger, in Frieden auseinander zu gehen und die Dinge so zu akzeptieren, wie sie waren, statt viel Energie in Überzeugungsarbeit zu investieren.
Seit gut zwei Jahren waren sie nun schon glücklich verheiratet und hatten diesen wohl schönsten Moment für ein Paar, das sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind, erhofft. Gisela und Rolf lebten in ihrer bereits eingerichteten Wohnung. Finanzielle Sorgen plagten sie nicht, da Rolf als Steiger im Bergbau gut verdiente. Einzig ihr Wunsch, endlich eine richtige Familie mit Kind zu werden, war ihnen bislang versagt geblieben.
Die Schwangerschaft verlief komplikationslos. Die Freude auf den Nachwuchs steigerte sich von Tag zu Tag. Wenige Wochen vor dem geplanten Geburtstermin hatten sie bereits von den Windeln über Fläschchen, Wiege, Strampler bis hin zur Spieluhr die gesamte Erstausstattung zusammen, war die Tasche mit dem Nötigsten für die Geburt bereits gepackt.  
Viel zu früh sanken in diesem Sommer die Temperaturen, das Wetter wirkte mit dem schwer lastenden Nebel eher herbstlich, als Gisela nach dem Aufstehen das erste Ziehen im Rücken verspürte. Nach und nach setzte das Ziehen regelmäßiger ein und nahm an Stärke zu. Da sie Rolf während der Arbeitszeit kaum erreichen konnte, begleitete sie wie vereinbart ihre Nachbarin Margret ins Krankenhaus. Der Gebärmuttermund hatte sich bereits geöffnet, als die Wehen unverhofft aussetzten, fast sah es so aus, als wollte das Kind den Weg in diese Welt verhindern. Erst der Einsatz entsprechender Medikamente führte dann schließlich zur Geburt des Jungen. Obwohl noch geschwächt von den Strapazen wirkte das erste Schreien wie eine Erlösung und ließ bereits die meisten Schmerzen wieder vergessen.
Der Junge machte einen gesunden aber schwächlichen Eindruck, mit seinen gut 2,5 kg bei einer Größe von 45 cm lag er eher am unteren Rand dessen, was normal war.
Am Abend besuchte Rolf voller Freude seine beiden Lieblinge.
„Gerade weil er so klein ist, lass uns ihm einen starken Namen auf den Weg mitgeben“, schlug Rolf vor.
„Was hältst du von „Wilhelm“?“, antwortete Gisela.
So erhielt der Junge wenige Wochen später bei seiner Taufe den Namen „Wilhelm“.
Wilhelm entwickelte sich in den nächsten Monaten nur sehr wenig. Zwar nahm er langsam an Gewicht zu, doch blieb er weiterhin schwächlich.
Selbst der Winter fiel in diesem Jahr unverhofft mit frostigen Temperaturen ein. An einem Nachmittag Anfang Dezember heulte ein eisiger Sturm um das Haus. Wilhelm lag in schlafend in seiner Wiege. Gisela nutzte die Zeit, um Rolf mit einem selbst gebackenen Kuchen zu überraschen. Sie wunderte sich schon darüber, wie lange Wilhelm bereits geschlafen hatte, da das aber häufiger vorkam, blieb ihr sogar die Zeit, den Kuchen fertig zu stellen. Plötzlich beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl, sie eilte in das Schlafzimmer. Die Augen weit aufgerissen, mit stumpfem starrem Blick, fahlem Gesicht und blau angelaufenen Lippen lag Wilhelm in seiner Wiege.
„Wilhelm!“, rief Gisela bereits verängstigt und nahm den Jungen heraus. Ohne Regung hing er schlaff in ihren Armen.
„Neiiin!!!, Wilhelm!!“ schrie sie panisch, rannte mit ihm zum Telefon, um einen Notarzt zu verständigen. Wilhelm zeigte keine Lebenszeichen mehr. Gisela versuchte noch eine Beatmung, doch als der Notarzt wenige Minuten später in der Wohnung stand, konnte er nur noch den Tod des Jungen feststellen. Er hatte einfach aufgehört zu atmen.
Gisela schrie: „Retten sie meinen Sohn, so tun sie doch etwas!“ Weder konnte noch wollte sie das Unbegreifliche annehmen. Erst nach einer Beruhigungsspritze kam sie zur Ruhe. Aus ihrem Dämmerzustand heraus verfolgte sie mit leerem Blick, wie der tote Körper von Wilhelm kurze Zeit später von einem Bestattungsunternehmen abgeholt wurde. Margret hatte die Schreie von Gisela mitbekommen und blieb bei ihr, bis Rolf am Abend von der Arbeit heimkam. Wie fast immer, war es für ihn auch heute wieder ein langer und anstrengender Arbeitstag gewesen, doch als er Gisela sah, verschwand die Müdigkeit abrupt, er ahnte bereits Schlimmes.
„Was ist passiert? Warum weinst Du?“
„Wilhelm, ich wollte ihm helfen, aber ich konnte nicht.“
„Was ist mit Wilhelm?“
Unter heftigem Schluchzen brachte Gisela nur mühsam hervor: „Unser Wilhelm ist tot. Er ist einfach nicht mehr aufgewacht. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.“
Rolf sank auf die Couch. Er nahm Gisela in den Arm. Sie klammerten sich weinend aneinander, um sich gegenseitig Halt zu geben.
Sie gehörten zu einer Generation, für die es nicht üblich war, sich externe Hilfe bei der Trauer zu holen. Psychologen waren nur etwas für Verrückte, aber verrückt waren sie ja nicht. Die Verwandtschaft nahm zwar Anteil, begleitete die Beiden auf dem letzten Weg für Wilhelm, echte Trauerarbeit gab es hingegen nicht. So lastete auf Gisela und Rolf für den Rest ihres Lebens schwer der schlimmste Schmerz verbunden mit dem Schuldgefühl, ihren Wilhelm überlebt zu haben, weil sie zu wenig für ihn getan hatten.
Sehr bald räumten sie die Babyausstattung in den hintersten Winkel des Kellers oder verschenkten Teile davon an einen mildtätigen Verein. Es war ein schwerer Schritt, doch war der einmalige Schmerz leichter zu ertragen als die ständige Auffrischung der Erinnerung. Für Rolf war es einfacher, wieder in den gewohnten Rhythmus einzufinden, das frühe Aufstehen, die anstrengende Arbeit lenkten ihn ab. Für Gisela bedeuteten besonders die Stunden des Tages  Einsamkeit. Kein Kind mehr, das nach Essen schrie, sie mit großen Augen anschaute, dessen kleine Hände noch unkoordiniert zu Greifen versuchten, das sie liebevoll auf den Arm nehmen konnte. Sein Tod hatte ein Stück ihres Herzens herausgerissen, das für immer fehlen würde. Anfangs wachte sie selbst nachts auf, weil sie das Weinen erwartete, mit dem Wilhelm seinen Hunger kundgetan hatte. Sie musste sich dann wieder und wieder klar machen, dass er nicht mehr an ihrer Seite lag noch jemals wieder dort liegen würde. Dann lag sie still weinend im Bett, weil sie Rolf nicht aus dem Schlaf wecken wollte.
Jahre gingen ins Land, das Leben nahm auch für Gisela nur mühsam wieder seinen normalen Gang. Irgendwann erwachte der Wunsch nach einem eigenen Kind zu neuem Leben. Doch auch diesmal wollte er nicht in Erfüllung gehen. Als sie die Hoffnung bereits aufgegeben hatten, Gisela war inzwischen Ende 30, passierte dann doch noch das Unverhoffte, sie wurde abermals schwanger. Zwar standen plötzlich die Ängste erneut vor ihnen, sie klammerten sich aber an die Hoffnung, nun von einem weiteren Schicksalsschlag verschont zu bleiben. Der Verlauf der Schwangerschaft nährte ihre Hoffnung, denn es gab keine Komplikationen und diesmal verlief auch die Geburt des zweiten Jungen ganz normal. Größe und Gewicht entsprachen dem normalen Maß. Am Tage seiner Geburt verglühten viele kleine Gesteinskörner, als sie sich zu nah Mutter Erde näherten.
„Diesmal hat es der liebe Gott wohl gut mit uns gemeint“, begrüßte Gisela ihren Mann, als er mit einem Strauß roter Rosen ins Krankenhaus kam.
„Trotzdem habe ich Angst, es könnte wieder etwas Schlimmes passieren“, entgegnete Rolf.
„Ich spüre es, diesmal wird unser Sohn bei uns bleiben. Die Schwangerschaft, die Geburt, alles ging gut, du hast es selbst erlebt. Ich werde nun alles dafür tun, dass ihm nichts geschieht.“ Bei diesen Worten schwang in Giselas Stimme eine bedeutungsvolle Zuversicht mit.
„Ich wünsche es uns Dreien, endlich eine richtige und glückliche Familie zu werden“, sagte Rolf in einer Mischung aus Angst und Zuversicht.
Der Junge erhielt den Namen Martin. Körperlich entwickelte er sich zunächst seinem Alter entsprechend. Bereits im Kindergarten und später in der Schule zeigte er einen wachen Geist, Kreativität und hohe Konzentrationsfähigkeit, sodass er ohne Schwierigkeiten die Grundschule durchlief. Statt ihn jedoch gemäß seinen Fähigkeiten und der ausgesprochenen Schulempfehlung auf ein Gymnasium zu schicken, wählten seine Eltern mit der Realschule den vermeintlich sichereren Weg.
Familiär wurde es jedoch immer ruhiger um die kleine Schicksalsgemeinschaft. Allzu offensichtlich stellte sich besonders Gisela vor ihren Sohn, selbst wenn eindeutig feststand,  dass er sich falsch verhalten hatte. So war es normal, wenn er seinen Cousinen oder Cousins Leckereien oder Spielsachen wegnahm, die er just in diesem Augenblick zusätzlich essen oder mit denen er selbst spielen wollte. Statt ihn in seine klaren Grenzen zu verweisen, erhielt er Bestärkung, während die anderen Kinder anderweitig entschädigt wurden. Da sich solche Vorfälle häuften, Martins Verhalten ob solcher Unterstützung zusehends zum kleinen Tyrannen entwickelte, blieben immer mehr Verwandte mit ihren Kindern fern. Ähnlich verhielt es sich mit Schulfreunden, die schließlich ganz ausblieben. Mit zunehmendem Alter ging so eine merkwürdige Wandlung mit Martin vor. Mit einer Länge von 1,65 Metern hörte er auf zu wachsen, er spürte wohl auf der einen Seite den Einfluss seiner Eltern, die ihm jeden Wunsch von den Lippen ablasen, der Preis dafür war jedoch eine zunehmend stärkere Abhängigkeit von ihnen, da ihn außerhalb seines Familienkreises nur Einsamkeit umgab.
Rolf baute ihm mit viel Akribie eine Heimorgel, später erhielt er ein Klavier. Da seine musische Begabung jedoch kaum mehr als ein Mittelmaß ausmachte, Martin auch keine besonderen Ambitionen zum Üben zeigte, verliefen diese kostspieligen Versuche, ihn an die Musik heranzuführen, letztlich im Sande. Versuche, ihn zu sportlichen Aktivitäten zu motivieren, erlitten das gleiche Schicksal. Niemals wurde er wirklich gefragt, was ihn eigentlich bewegte oder was ihn interessierte. Gisela bestimmte, was er anzuziehen hatte. Seine Kleidung war stets von guter Qualität, lief jedoch ständig an der Kindermode vorbei, denn sie war vom Stil her an dem ausgerichtet, was auch seine Eltern trugen. Als er ausgewachsen war, stellte sich zudem das Problem, für seine irgendwie zu klein gebliebenen Füße geeignetes Schuhwerk zu finden. Den Kindergrößen entwachsen und für Erwachsenengrößen zu klein, fand Gisela geeignete Fußbekleidungen bei den Frauenschuhen, die Männerschuhen noch am ähnlichsten waren. So wurden ihm jegliche Entscheidungen abgenommen, Martin bekam keine Chance, selbst Einfluss zu nehmen, die Abhängigkeit ging in eine Hörigkeit über. Aus dem einstmals tyrannischen Kind entwickelte sich ein durch seine altmodische Bekleidung auffälliger aber ansonsten kaum zum Sprechen zu bewegender stiller Mensch.
Er war inzwischen volljährig, wohnte nach wie vor bei seinen Eltern, hatte weder Freunde, mit denen er ausging, noch jemals eine Freundin gehabt. Um Abwechslung und persönliche Kontakte in sein Leben zu bringen, kam Gisela die Idee eines Cousinen- und Cousintreffens.
Während seine Eltern „in der Disco“ waren, sollte man sich in lockerer Atmosphäre unterhalten. Da Martin allerdings nur auf direkte Ansprache redete und selbst dann nur das Nötigste sagte, versuchten seine Cousins, ihn durch Alkohol lockerer zu machen. Tatsächlich zog er mit, sein verklemmtes Verhalten löste sich, plötzlich konnte er sogar herzhaft lachen. Leider vertrug er den Alkohol nicht, musste sich nach ein paar Stunden bereits übergeben und verschwand dann plötzlich im Bett. Die Stimmung erreichte bei den anderen jubilierende Höhen, endlich war Martin einmal zumindest ein wenig aus sich heraus gegangen.
Irgendwann kamen Gisela und Rolf nach Hause, die gute Stimmung, die sich breit gemacht hatte, dauerte noch immer an.
„Wo ist Ulli?“ war Giselas erste Frage.
„Uli? Der liegt bereits im Bett, hat wohl den Alkohol nicht vertragen“, bekam sie zur Antwort.
Wie eine Feder, die auf das Äußerste gespannt war und plötzlich losgelassen wird, rannte sie ins Schlafzimmer, um nach ihm zu schauen. Er schlief so fest, dass er sie gar nicht  bemerkte. Derweil hielt sich die lockere Feierlaune noch eine Weile, bis schließlich die Letzten den Weg nach Hause fanden.
Die Vorfreude war groß, als das nächste Treffen von Gisela anberaumt wurde. Diesmal würde man mit Martin sicher einen tollen Abend verbringen können. Doch die Erwartungen wurden schnell enttäuscht. Offensichtlich war Martin ob seines frühen und alkoholreichen Absturzes ordentlich eingenordet worden. Er hielt sich deutlich spürbar zurück, seine Anwesenheit war nur noch rein körperlich.
Nachdem sich bei dem nächsten Treffen das gleiche Trauerspiel wiederholte, sagten bei zukünftigen Terminen alle ab. Wieder schnürte sich der Ring der Einsamkeit enger um Martin.
Rolf war inzwischen in den Ruhestand gegangen. Er sah nun auch seine Chance gekommen, sich intensiver um seinen Sohn zu kümmern. Schon lange hatte der seine Schule erfolgreich beendet. Für Martin allerdings eine Arbeit zu finden, erwies sich für Rolf und Gisela als unerwartet schwer. Zwar brachte er ansehnliche schulische Noten mit und für die Zeit bis zu einer möglichen Anstellung sorgten die Beiden für fachliche Fortbildungen, die seine Chancen erhöhen sollten. Da Martin aber nie gelernt hatte, Eigeninitiative oder Durchsetzungsvermögen zu entwickeln, blieb spätestens nach einem Vorstellungsgespräch der erwünschte Erfolg aus. Weder Rolf noch Gisela versuchten nach den wirklichen Ursachen zu suchen, sie sahen als Grund nur den Arbeitsmarkt selbst. Nach etlichen Misserfolgen fand sich dann doch noch ein Anstellungsverhältnis als kaufmännischer Mitarbeiter, für Gisela und Rolf war glücklicherweise dafür nicht einmal ein Umzug erforderlich, Martin konnte bei ihnen wohnen bleiben und täglich mit seinem Auto selbst zur Arbeit fahren.
Er machte seine Arbeit ordentlich, erwies sich als zuverlässiger Mitarbeiter. Zwar entwickelte er keine neuen Ideen, doch da er sich auch nicht beschwerte, bürdete man ihm, wann immer es erforderlich war, mehr Arbeit auf. Sein Gehaltsniveau stieg nur dann, wenn es für alle anderen Mitarbeiter genauso geschah, denn Martin selbst wagte es nie, Forderungen zu stellen.
Auf Giselas Initiative hin wurde Martin von Verwandten einmal im Jahr an die Mosel zur Weinprobe mitgenommen. Er setzte sich in die Runde, trank gelegentlich von dem angebotenen Wein, schaute mit traurigen Augen auf die Leute, die sich in lustiger Runde um ihn herum amüsierten und verschwand irgendwann im Laufe des Abends auf sein Zimmer. Kurz vor der Abfahrt bestellte er mehr aus Höflichkeit ein paar Flaschen Wein. Der Versuch, mit ihm ein Gespräch zu führen, verlief so schleppend wie eh und je. Die Antworten blieben auf das Notwendigste beschränkt, er stellte keine Gegenfragen, über sich selbst sprach er ohnehin nicht, was ihn bewegte, freute oder beschäftigte. Dieses zähe Ringen um einen Dialog hielt niemand lange aus, weshalb es kaum jemand überhaupt versuchte.
Inzwischen war Martin mehr als 30 Jahre alt, noch immer wohnte er bei seinen Eltern. In dem Haus, in dem sein Cousin Tobias mit seiner Freundin wohnte, wurde ein kleines Apartment frei. Das Wohnhaus lag nur wenige Kilometer von seinem Elternhaus entfernt und hätte ihm den Weg zur Arbeit sogar noch ein wenig verkürzt.  Tobias kam die Idee, Martin bei nächster Gelegenheit den Vorschlag zu machen, dort einzuziehen. Während einer Geburtstagsfeier wenig später bot sich eine Chance. Am Kaffeetisch saß Martin zwischen seinen Eltern. Giselas und Rolfs Stühle standen so eng neben seinem, dass ihm gerade genug Platz blieb, den Kuchen zu essen und den Kaffee zu trinken. Ein Aufstehen wäre ihm nur dann möglich gewesen, wenn einer der Beiden zuvor den Weg frei gemacht hätte. Es war die gleiche Einrahmung, wie sie sich immer bei Feierlichkeiten bot.
„Ulli, bei uns im Haus ist ein kleines Apartment frei geworden“, nahm Tobias Anlauf, „wäre das nicht eine geeignete Wohnung für Dich?“
„Vielleicht“, antwortete Gisela, während Martin wortlos nickte.
„Wir müssten uns allerdings die Wohnung erst einmal anschauen“, fügte Rolf hinzu.
Überrascht über die unerwartete Zustimmung von Martins Eltern antwortete Tobias:
„Das dürfte kein Problem werden, ich kann mich ja um einen Besichtigungstermin kümmern, wenn ihr das wollt?“
„Gut, dann gib uns bitte bescheid“, stimmte Gisela zu.
Am darauffolgenden Wochenende fand dann die Besichtigung statt. Alle Räume wurden genau untersucht, Rolf hatte bereits ein Metermaß mitgebracht, um die Örtlichkeiten zu vermessen und deren eventuelle Einrichtung zu planen. Nachdem sie sich mit dem Vermieter auch über die Miete geeinigt hatten, empfahlen sie Martin zum Mietvertrag.
Rolf entwarf den Einrichtungsplan und als Einkaufsberaterin suchte Gisela für Martin die Möbel, Tapeten sowie Gardinen aus. Finanziell halfen sie ihm unter die Arme, da sein Geld allein für die Bezahlung des Mobiliars nicht reichte.
Beim Tapezieren stand Martin meist teilnahmslos dabei, wenn Gisela die Tapeten für das Ankleben vorbereitete, was Rolf vornahm. Nach dem Abschluss der Arbeiten putzte Gisela die Wohnung blitzblank.
Nachdem die Möbel geliefert worden waren, bestimmten Gisela und Rolf, wann Martin in seiner Wohnung bleiben dürfte: Wegen seiner Arbeit würde er von montags bis freitags nach wie vor bei ihnen bleiben, damit sie ihn versorgen könnte. Für seinen Freigang von Freitagnachmittag bis Sonntagabend putzte Gisela sicherheitshalber nochmals alles und bereitete alle Mahlzeiten vor. Seine Schmutzwäsche verblieb in der Wohnung, weil sie dort am einfachsten von Gisela wieder gewaschen, gebügelt und eingeräumt werden konnte. Bei diesen Gelegenheiten füllte sie den Kühlschrank mit nichtalkoholischen Getränken auf.
Während der Zeit, die er in seinem Domizil verbrachte, blieb er genauso unauffällig wie sonst. Kein einziges Mal klingelte er an der Wohnung von Tobias, die auf der gleichen Etage direkt neben seiner lag.
Kurze Zeit später zogen Tobias und seine Frau nach Norddeutschland, weil er dort Arbeit gefunden hatte. Martins Firma hingegen verlegte die Filiale in den süddeutschen Raum. Er half beim Umzug und arbeitete die Mitarbeiter vor Ort ein. Als ihm jedoch das Angebot gemacht wurde, ebenfalls seinen Wohnsitz dorthin zu verlegen, lehnte er auf Drängen seiner Eltern ab und verlor seinen Arbeitsplatz.
Da in der Firma von Tobias Arbeitskräfte gesucht wurden, schlug er Martin vor, sich dort vorzustellen. Den Chef schreckte jedoch die Initiativlosigkeit ab, sodass von einer Einstellung abgesehen wurde, Martin blieb arbeitslos. Er blieb es nicht nur für Monate, denn die Situation auf dem Arbeitsmarkt verschlechterte sich zudem immer weiter, die hohe Arbeitslosigkeit erschwerte zusätzlich seine Chancen. Fortbildungsmaßnahmen verpufften ebenso wirkungslos, die Zeit ohne Berufserfahrung wurde immer länger, was seine Chancen weiter verschlechterte, er fand schließlich überhaupt keine Arbeit mehr, seine Eltern blieben seine einzige Nabelschnur, von der er lebte. Finanziell würde er sich keine Sorgen zu machen haben, Gisela und Rolf lebten schon immer bescheiden genug, sodass ausreichend Geld übrig blieb, das in Reserven angelegt war. Zwar hatte die Natur ihnen eine robuste Gesundheit geschenkt, doch nagte an ihnen das Alter genauso wie an jedem anderen Menschen. Rolf starb mit 85 als Erster. Gisela setzte ihre Energien weiter für ihren Martin ein, bis das Schicksal sie ein Jahr später genauso ereilte. Er empfand keine Trauer über ihren Tod, allein die Angst, die ihm sein Leben lang durch seine Eltern eingeimpft worden war, nahm von ihm Besitz.
Da er es nie anders gelernt hatte, begriff er seine Situation nicht mehr als neu gewonnene Freiheit, sondern als Zustand der Haltlosigkeit. Er setzte sich in einen Sessel seiner elterlichen Wohnung und wie einst sein verstorbener Bruder, den er nie kennengelernt hatte, hörte er auf zu atmen. Selbst im Tod sah er nicht das Sonnenlicht, weil der Sessel mit dem Rücken zum Fenster stand. Bis zum Schluss galt sein letzter Blick einem Foto im Regal, auf dem seine Eltern abgebildet waren, zwischen ihnen Martin.

Sonntag, 17. Juli 2011

Weihnachten

Gemeinsam mit meiner Freundin und deren Enkelin sitzen wir in der Kirche. Es ist Heiligabend und wir warten auf den Beginn der Kinderweihnachtsmesse. Ich möchte mich auf die kommende Feier konzentrieren, den Kindern gleich ein paar sorglose Minuten in einer erwartungsfrohen Atmosphäre genießen, doch meine Gedanken schweifen ab.
Wo war sie geblieben, die unbeschwerte Kinderzeit? Wo war er geblieben, der Zauber der Vorweihnachtszeit, als meine Mutter zum Beginn des Advents einen Adventskalender im Wohnzimmer aufhängte? Den Kalender hatte sie selbst gestickt, winterliche Motive stimmten auf die Weihnachtszeit ein. Für jeden Tag bis zum heiligen Abend war ein Ring angenäht, an dem für meine Schwestern und mich jeweils eine Süßigkeit befestigt war. So sollte uns Kindern das Warten auf das Weihnachtsfest erleichtert werden. Es war unser erstes Ziel, jeden Morgen nach dem Aufstehen zunächst die kleine Bescherung abzuschneiden und die verbleibenden Tage zu zählen, denn mit Spannung erwarteten wir den letzten Tag. Denjenigen, der unter dem Zeichen des leuchtenden Sterns stand, der einst den heiligen drei Königen den Weg zur Krippe wies, in dem das Christuskind geboren wurde. Wie liebte ich den Geruch der frisch gebackenen Plätzchen, die die Räume unseres Hauses erfüllten, den Duft von Tannennadeln und Harz an dem Adventskranz. Nach dem Ablauf einer jeden Woche zeigte auch das Anzünden einer weiteren Kerze, dass der so herbeigesehnte heilige Abend immer näher rückte. Nur noch wenige Tage vor Weihnachten kümmerte sich meine Mutter auf dem Wochenmarkt um einen Weihnachtsbaum. Wie jedes Jahr stritt sie sich mit dem Verkäufer um den Preis, am Ende gab er dann doch nach und sie handelte ihm einen Rabatt ab. Zuhause nahm mein Vater eine Axt, spitzte damit den Stamm an und steckte den Baum in den Halter, mit drei Schrauben wurde der Baum darin fixiert. Im Wohnzimmer fand er seinen Platz, gemeinsam mit unserer Mutter schmückten wir die Äste mit Kugeln, Strohsternen, Engeln und echten Kerzen. Natürlich durfte eine aus Glas geblasene silberne Spitze als Krönung nicht fehlen. Mit leuchtenden Augen warfen wir zuletzt Lametta auf den Baum und erfreuten uns an seinem bezaubernden Anblick. Ja, es war etwas Besonderes, auf Weihnachten und die Geschenke zu warten.   
Dann endlich, am heiligen Abend mischten sich unter die Tannendüfte noch die des Festessens, das meist mein Vater zubereitete, während unsere Mutter mit uns in die Kirche ging. Wie an keinem anderen Tag im Jahr mussten wir rechtzeitig dort sein, denn kam man zu spät, blieben nur noch Stehplätze an den Seiten oder am Ausgang. Ich erinnere mich, wie ich im Verlauf der Messe ständig nach oben auf die bunten Fenster schaute, um die Dämmerung zu erwarten, ein Weihnachtsfest im Hellen schien mir undenkbar zu sein.
Das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ beendete den Weihnachtsgottesdienst. Auch wenn der Weg nach Hause nur kurz war, so erschien er meinen Schwestern und mir an diesem Tag immer besonders lang. Zuhause angekommen war das Licht abgedunkelt. Unsere Eltern gingen vor ins Wohnzimmer. Wir warteten ungeduldig, wollten aber keinesfalls das Christkind stören, das uns die Geschenke bringen würde. Ob es wohl an uns alle gedacht hatte? Hoffentlich hätte es keine Geschenke vergessen!
Dann endlich das erlösende Klingeln einer kleinen Glocke. Wir öffneten die Tür zum Wohnzimmer. Einzig die brennenden Kerzen auf dem Weihnachtsbaum erleuchteten den Raum. Die über die Wand huschenden Schatten, die die hin- und herwiegenden Flammen erzeugten, gaben dem Ganzen eine geheimnisvolle, fast schon unergründliche Atmosphäre.
Am Fuße des geschmückten Baumes in buntes Papier gehüllt, warteten die so lang ersehnten Geschenke auf uns. Noch heute höre ich das Rascheln des Papiers beim Aufreißen. Natürlich hatte das Christkind niemanden vergessen und wie selbstverständlich hatte es unsere Wünsche erfüllt.
Viel zu früh mussten wir dann nach dem Festessen ins Bett gehen, vor lauter Aufregung brachte es mich meist um den Schlaf, häufig wachte ich in der Nacht auf. Wann endlich wäre diese Nacht zu Ende, damit ich wieder mit meinen Geschenken spielen kann?
Das Krippenspiel hat begonnen. Die hochschwangere Maria sucht mit Josef nach einer Unterkunft, sie spürt ihr Kind, das das Licht der Welt erblicken möchte.
Ein unschuldiges Kind, das das Leid der Welt auf sich nehmen wird, um sie zu erlösen. Was habe ich meinen Kindern angetan?
Meine Freundin hat eine gescheiterte Ehe hinter sich, sie bekam ihren Sohn sehr früh, inzwischen selbst erwachsen ist er bereits Vater dreier Kinder. Ihre Scheidung verlief reibungslos als ihr Sohn bereits erwachsen war. Wir beide haben ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu ihrem Ex-Mann. Bei mir sieht es leider ganz anders aus. Zwar läuft bereits meine Scheidung, es ist meine zweite, doch muss ich fast völlig hilflos zusehen, wie vor allem unser achtjähriger Sohn von meiner Frau zwischen den Fronten benutzt und zerrieben wird.
Noch vor gut einer Woche konnte ich ihn bewundern, wie er in einer Weihnachtsaufführung der Grundschule gekonnt durch das Programm seiner Klasse führte. Nach der Veranstaltung sah er mich und ging wortlos an mir vorbei. Meine Frau war mit unserer vierjährigen Tochter nicht zu sehen. Ich sprach ihn an und wollte von ihm wissen, was los sei, warum er mich missachtete.
„Ich darf nicht mit dir sprechen, sonst bekomme ich Ärger mit Mama.“ Unter Tränen lief er weiter zum Parkplatz.
Von Freunden erfuhr ich, dass meine Frau unsere Tochter beiseite genommen hatte, damit ich zumindest sie nicht sehen könnte. Es war dies zum aktuellen Zeitpunkt der für mich bis dahin schlimmste Moment unserer Trennung.
Die Elternvereinbarung sah für das diesjährige Weihnachtsfest einen Verbleib unserer Kinder bei meiner Frau vor. Um uns allen doch noch ein schönes Fest bereiten zu können, hatte meine Freundin mit viel Liebe für das letzte Besuchswochenende vor dem heiligen Abend einen Weihnachtsbaum vorbereitet. Gemeinsam mit meinen Kindern feierten wir eine vorgezogene Bescherung. Doch schon am nächsten Tag, an dem ich die Beiden wieder zurückbringen sollte, eskalierte die Situation ins Fiasko. Mein Sohn zeigte eine fast panische Angst, seinen neuen mp3-Spieler mitzunehmen, er befürchtete eine Wegnahme durch meine Frau. Unser Zureden blieb wirkungslos, er lief aus der Wohnung. Erst an einem nahegelegenen See gelang es meiner Freundin, mit ihm zu sprechen und zur Rückkehr zu bewegen. Er hatte versucht, den mp3-Spieler im Wasser zu versenken.
Mit so einer katastrophalen Entwicklung unserer Scheidung hatte ich nie gerechnet, dabei hatte ich mir den Schritt zur Trennung mit Rücksicht auf unsere Kinder alles andere als leicht gemacht, die Entscheidung über mehrere Jahre hingezogen. Ich empfand diese Zeit als schrecklich, wie ein Korsett, das mich zunehmend einschnürte und mir die Luft zum Atmen nahm, gezeichnet von der schwindenden Hoffnung, keine Rettung mehr für unsere zerrüttete Ehe zu erkennen. Eine wirkliche Kommunikation fand zwischen meiner Frau und mir außer über die alltäglich zu erledigenden Dinge kaum statt. Konflikte wurden nicht gelöst sondern mündeten in gegenseitigen Vorwürfen, die meine Frustration ins Unerträgliche steigerte. Ich zog mich immer mehr in mich selbst zurück, vereinsamte in unserer Ehe. Letztlich sah ich mich einer Situation ausgesetzt, in der mir die Wahl blieb, mich selbst dafür aufzugeben, immer mehr Energie in die Aufrechterhaltung einer hübschen Fassade, hinter der sich ein stetig wachsender Trümmerhaufen sammelte, zu stecken oder die Entscheidung in Richtung einer Trennung zu treffen. Ich konnte mich nicht aufgeben, ich sah keinen Sinn darin, unseren Kindern ein trügerisches Bild unserer Ehe weiterhin vorzuleben. Es wäre die Vermittlung eines Vorbildes gewesen, das ich mir nicht hätte verzeihen können. Das Scheitern einer Ehe ist für die eigenen Kinder kaum besser, die Sicherheit, in der sie eigentlich aufwachsen sollten, erweist sich als brüchig, aber sie ist wenigstens ehrlich. Ich glaube und hoffe, wenn sie alt genug sind, das zu verstehen, werden sie eher ein Scheitern verarbeiten können als eine Lüge, denn letztere würden sie dann mehr oder weniger schon ihrem eigenen Leben als normal zu eigen gemacht haben.
Obwohl meine Frau mit dem Gang zu einer Psychologin den ersten Schritt hin zu einer Veränderung eingeleitet hat, hat sie mir meinen Entschluss bis heute nicht verziehen, weil ich mit meiner Entscheidung eine Grundfeste ihrer Überzeugung ins Wanken gebracht habe, ein Ergebnis, das sie sicherlich nicht erwartet hatte. Statt aber zumindest die Entscheidung zu akzeptieren, ließ sich mich und unsere Kinder ihre Verbitterung darüber spüren.
Der Heiland ist geboren, die drei Weisen aus dem Morgenland sind dem Zeichen des Sterns gefolgt und bringen ihm die Geschenke dar. Welch ein bewegender Moment für die anwesenden Kinder!
Nur für einen Moment, einen ganz kleinen Moment, wünsche ich mich in meine Kindheit zurück, mir stehen die Tränen in den Augen.